126. Sitzung des Deutschen Bundestages, 21. September 2011
TOP 19: Entwurf eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung
Drucksache 17/6905
Fraktion DIE LINKE - Rede zu Protokoll (es gilt das gesprochene Wort)
Sehr geehrte(r) Herr/Frau Präsident(in), meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir begrüßen den Versuch, die Notlösung im § 76 Absatz zwei Gerichtsverfassungsgesetz nicht nochmals zu verlängern.
Im Detail können wir dem Einbringer aber zum wiederholten Mal kritische Hinweise nicht ersparen.
Worum geht es genau? Nach Herstellung der deutschen Einheit wuchs der Bedarf an Richtern und Staatsanwälten im Beitrittsgebiet kurzfristig stark an. Deshalb entschied sich der Gesetzgeber im Jahre 1993 für eine vorübergehende Notlösung. Er erlaubte den Großen Strafkammern an den Landgerichten selbst über ihre Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern zu entscheiden. Die Rechtsgrundlage bildete § 76 Absatz zwei Gerichtsverfassungsgesetz und war bis zum 28.02.1998 befristet. Danach sollte die Regelung auslaufen. Man ging davon aus, dass nach fünf Jahren genügend geeignete Juristinnen und Juristen zur Verfügung stünden. Tatsächlich war diese Vermutung bereits im Jahre 1998 auch eingetreten. Eine völlig andere Lage besteht aktuell. Die Zahl der offenen Stellen in der Justiz bleibt weit hinter der Zahl bestens geeigneter Juristinnen und Juristen zurück. Die Geschäftsgrundlage für die damalige Sonderregelung, nämlich der Mangel an geeigneten Fachkräften, ist also längst entfallen. Dennoch hat die Regierung die Ausnahmeregelung ohne Not mehrfach, meist im Zweijahresrhythmus verlängert. Die letzte Frist läuft am 31.12.2011 ab.
Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Motiven bei der Besetzung der Großen Strafkammern weiterhin Sonderrecht gelten soll.
Eine Antwort könnte lauten: Kosteneinsparung in der Justiz. Durch die Regelung des § 76 Absatz zwei Gerichtsverfassungsgesetz wurden in jedem Bundesland – also nicht nur in den neuen Bundesländern – mindestens fünf bis zehn Richterstellen eingespart. Das hat die Finanzminister der einzelnen Länder offenbar so sehr gefreut, dass dieser Einspareffekt nun festgeschrieben werden soll. Damit wird nicht nur die viele Arbeit auf weniger Köpfe verteilt, es wird auch leichtfertig mit der Qualität des Strafprozesses gespielt.
Dieser Einspareffekt muss die Bundesregierung bewogen haben, den heute zu debattierenden Gesetzentwurf vorzulegen und nicht die Regelung einfach am 31.12. auslaufen zu lassen. Auch der Justizminister der schwarz-gelben Regierung in Schleswig-Holstein fordert für die großen Jugendkammern eine Besetzung mit drei Berufsrichtern. In einem Antrag für die Bundesratssitzung plädiert er für eine Streichung der Besetzungsreduktion bei den großen Jugendkammern. Er argumentiert mit Qualitätssicherung, der großen Bedeutung von Jugendverfahren und fordert einen hohen Standard in Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Ich hoffe, viele Landesjustizminister werden seinem Beispiel folgen. Daneben bietet die Dreierbesetzung der großen Jugendkammern laut Deutschem Richterbund die Möglichkeit der besseren Befassung mit dem Tatgeschehen, der Person des jungen Angeklagten und der erzieherisch gebotenen Sanktion. Damit können Rückfälle vermieden werden, deren volkswirtschaftliche Kosten die Mehrbelastung der Justizhaushalte bei weitem überwiegen.
Mit dem vorliegenden Entwurf wollen sie neben einer Vielzahl von Präzisierungen in den Zuständigkeitsregelungen den § 76 Gerichtsverfassungsgesetz und analog auch das Jugendgerichtsgesetz ändern. Zwar hat die Bundesregierung mehrere Regelbeispiele aufgenommen, die das Ermessen der Kammern bei der Selbstbestimmung ihrer Besetzung reduzieren. Es kann dennoch nicht hingenommen werden, dass ein Gericht selbst entscheidet, in welcher Besetzung es tätig sein will. Damit besteht die Gefahr der Ungleichbehandlung verschiedener Angeschuldigter vor den Großen Straf- und Jugendkammern und somit die Verfestigung unterschiedlicher Standards. Eine derartige Ungleichbehandlung würde gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen. Die Bundesregierung wiederholt hier den Fehler wie bei der Änderung des § 522 Absatz zwei und drei Zivilprozessordnung. Beide Gesetze öffnen Tür und Tor für eine willkürliche und ungleiche Behandlung der Beteiligten in den Verfahren. Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus der unterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerichten. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in einem Gutachten: In verminderter Besetzung wurden zum Beispiel im Saarland 9 % der Verfahren verhandelt und in Bayern und Sachsen 90 %. Das heißt, in neun von zehn Verfahren wird im Saarland mit drei Richtern verhandelt und in neun von zehn Verfahren wird in Bayern nur mit zwei Richtern verhandelt. Und das, obwohl der angeblich in allen Belangen vorbildliche Freistaat Bayern bekanntermaßen nicht zu den neuen Bundesländern mit angeblichem Richtermangel gehört.
Dieses Ungleichgewicht vermag auch der vorgelegte Entwurf nicht zu beseitigen, so dass es besser wäre, die befristete Regelung einfach auslaufen zu lassen und zu dem über Jahrzehnte bewährten Rechtszustand vor 1993 zurückzukehren.
Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fiskalischen Interessen der Länder unterzuordnen, erteilen wir eine klare Absage.