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Kindergeld ist kein Gnadenakt!

Rede von Ilja Seifert,

Rede zum TOP 27,
Antrag der Grünen „Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfeträger“, Drucksache 17/10863 und 17/11748

Hat Ihr Kind einen hohen Verschleiß an Kleidung und Schuhen? Wenn ja, legen Sie bitte die Gründe dar und teilen Sie mit, was im Jahr an Kosten für Schuhe und Kleidung anfallen? Muß Ihr Kind öfters ins Krankenhaus? Bitte teilen Sie mit, wie hoch Ihre gesamten Kosten für die Renovierung des Zimmers des Kindes waren? Wie oft renovieren Sie das Zimmer Ihres Kindes?


Eigenartige Fragen. Können Sie sich vorstellen, daß die Familienkasse die Beantwortung solcher und weiterer ähnlich gelagerter Fragen fordert, bevor Sie das Kindergeld bzw. den Kinderfreibetrag gewährt bekommen? Sicher nicht, den das staatliche Kindergeld soll zumindest teilweise die finanziellen Belastungen ausgleichen, die Eltern durch den Unterhalt ihrer Kinder entstehen.

Es gibt aber solche Fragen von Familienkassen, gestellt an Eltern von Kindern (über 25 Jahren) mit Behinderungen. Und dann bzw. schon zuvor erfolgt die „Kindergeldabzweigung“.

Was das ist? Dazu ein anonymisiertes Beispiel aus dem Landkreis Harz:
„Im Oktober 2011 kam Post von der Familienkasse (FK) für die Eltern von Erika Mustermann. Erikas Eltern waren erstaunt, hatten sie doch erst vor kurzem, wie in jedem Jahr, den Bescheid von der FK erhalten, daß sie weiterhin Kindergeld für Erika bekommen. Erika ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie lebt bei ihren Eltern im Haushalt. Da sie wirtschaftlich nicht selbständig und auf Hilfe angewiesen ist, erhält sie vom Sozialamt des Landkreises Grundsicherung nach dem XII. Sozialgesetzbuch. Außerdem steht den Eltern entsprechend Einkommenssteuergesetz §32 Kindergeld auch nach dem 25. Lebensjahr ihres Kindes (Erika ist über 30 Jahre alt) auf Dauer zu.
Doch in diesem Schreiben der FK steht, daß das Sozialamt des Kreises ab November 2011 das Kindergeld für sich beantragt. Was passierte dann?
Der "Abzweigungsantrag" des Landkreises an die FK bewirkt, daß die Kindergeldzahlung ab 01.11.2011 eingestellt wird, obwohl noch nichts entschieden ist. Innerhalb von 14 Tagen müssen die Eltern der FK mitteilen, welche finanziellen Aufwendungen ihnen für ihr Kind entstanden sind, die über die Grundsicherung oder Leistungen anderer (Kranken- oder Pflegekasse) hinausgehen. Dafür sind der FK Nachweise (Quittungen, Belege usw.) vorzulegen. Dann kommt die Mitteilung von der FK, daß die Belege unzureichend seien, verbunden mit Fragen wie z.B. nach höherem behinderungsbedingten Verschleiß von Kleidung und Schuhen!!! Nachweise müssen nachgereicht werden, noch weitere werden von der FK gefordert. Monate vergehen.

Im Frühjahr 2012 kommt endlich der Bescheid von der FK. Doch was ist das? Erikas Eltern sollen nur noch etwa ein Drittel des bisherigen Kindergeldes von 184 EUR erhalten, der Landkreis bekommt etwa zwei Drittel. Eine Nachzahlung ab November wird den Eltern angekündigt. Doch dazu kommt es nicht. Der Landkreis gibt sich mit einer "Teilabzweigung" nicht zufrieden und legt Einspruch gegen diesen Bescheid bei der FK ein. Er will alles. Bis zum letzten Herbstmonat des Jahres 2012 ist noch keine Entscheidung gefallen.

Erikas Eltern bekommen jetzt bereits seit einem Jahr kein Kindergeld, obwohl sie sich wie seit über 30 Jahren liebevoll um ihre Tochter kümmern. Die natürlich weiterhin anfallenden behinderungsbedingten Mehraufwendungen können sie seit einem Jahr nur noch erbringen, in dem sie selbst auf Nötiges für sich verzichten.

Der Landkreis hat die Mittel, die er 2012 aus Kindergeldabzweigungen eingenommen hat (180.000 EUR), inzwischen als Deckungsquelle für eine überplanmäßige Ausgabe eingesetzt. Das Geld im Haushaltsplan 2012 hat nicht für die Zahlung der Sozialhilfe (dafür ist ebenfalls der Landkreis zuständig) an alte Menschen gereicht, die von ihrer geringen Rente nicht leben können. Sie erhalten jetzt das Geld, das den Eltern erwachsener behinderter Kinder "abgezweigt" wurde.“

Dies wurde auf Grundlage einer Vielzahl von Gesprächen mit betroffenen Eltern vom Kreistagsabgeordneten Eberhard Schröder (DIE LINKE) am 16.11.2012 aufgeschrieben. Ähnliche Berichte kenne ich auch aus Gera in Thüringen, Gemeinden in Bayern und anderen Kommunen.

Am 5. Dezember 2012 übergab eine Elterninitiative 2.305 Unterschriften an den Landrat Dr. Michael Ermrich anläßlich der Harzer Kreistagssitzung. Inzwischen sind weitere 400 Unterschriften hinzu gekommen.

Nachfolgend die Elternworte von Frau Birgit Kortum, Vertreterin der Elterninitiative Quedlinburg anläßlich der Übergabe der 2.305 Unterschriften gegen die Kindergeldabzweigung:

„Sehr geehrter Herr Landrat, sehr geehrte Mitglieder des Kreistages,
ich spreche heute für mich und für alle Eltern, denen der Landkreis per Verfügung das Kindergeld, welches wir für unsere behinderten Kinder von der Kindergeldkasse erhalten haben, abspricht. Der Landkreis unterstellt uns damit, dass wir uns nicht ausreichend um unsere behinderten Angehörigen kümmern. Uns wird weiter unterstellt, dass wir das Kindergeld nicht für unsere Kinder ausgeben und wir müssen detailliert aufführen, was wir mit dem Kindergeld machen und wie wir es verwenden, damit wir es ganz oder teilweise weiter bekommen.

Als seinerzeit das Gesetz erlassen wurde, dass Kindergeld länger für ein behindertes Kind gezahlt werden kann, hat man sicherlich bedacht, dass Eltern die ihr behindertes Kind zu Hause haben, ständig gefordert sind und mehr Ausgaben haben, als mit einem gesunden Kind, welches einmal selbständig leben kann.

Wir fordern deshalb die Rücknahme der Abzweigungsanträge durch den Landkreis. Nicht nur wir, sondern auch viele Bürger unseres Landes unterstützen unsere Forderung mit ihrer Unterschrift und deshalb möchte ich Ihnen heute einen Teil der Listen unserer Unterschriftenaktion übergeben.“

Auf Antrag der Fraktion DIE LINKE im Landtag Sachsen-Anhalt gab es am 14. Dezember 2012 dazu eine Debatte in der Landeshauptstadt Magdeburg (Abzweigung von Kindergeld für erwachsene Behinderte stoppen, Drs. 6/1671), auch in den Landtagen Bayern und Thüringen stand das Thema schon auf der Tagesordnung.

Ich möchte aus der Rede meiner Kollegin Dagmar Zoschke zitieren: „Seit geraumer Zeit wenden sich viele Betroffene an uns, die mit dem Problem der Abzweigung des Kindergeldes konfrontiert werden. Viele örtliche Träger der Sozialhilfe unternehmen den Versuch - und das fast flächendeckend -, dieses Kindergeld abzuzweigen. In diesem Verlauf passieren Dinge, die unglaublich sind.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in seiner Klarstellung an die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger die Rechtsauffassung vertreten, dass die Abzweigung des Kindergeldes nur einheitlich und nur in begründeten Ausnahmefällen erfolgen soll. Die neue Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bezüglich der Anwendbarkeit des § 74 des Einkommensteuergesetzes bewirkt demnach keinen Wandel in der geltenden Rechtslage. Insbesondere ist sie keine Grundlage für eine großzügige Abzweigung des Kindergeldes durch entsprechende Anträge der Sozialhilfeträger.

Das Finanzgericht Sachsen-Anhalt hat in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 5 K 454/11 und das Finanzgericht Thüringen in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 3 K 309/10 im November 2011 entschieden, dass eine Abzweigung des Kindergeldes in den Fällen, in denen das Kind im Haushalt der Eltern betreut und versorgt wird, grundsätzlich ausgeschlossen ist. Beide Finanzgerichte halten die den Eltern auferlegten Nachweispflichten für unverhältnismäßig. Gegen beide Urteile ist Revision beim Bundesfinanzhof eingelegt worden.

Während einige Landkreise ganz verzichten, machen andere die Nachweispflicht nur dann geltend, wenn tatsächlich einer Unterhaltsverpflichtung durch die Eltern nicht nachgekommen wird. Andere Landkreise haben die Abzweigung in der Zwischenzeit wieder zurückgenommen und sich bei den betroffenen Eltern entschuldigt. Allerdings gibt es in unserem Land Landkreise und kreisfreie Städte, die mit dieser Abzweigungssumme ganz fest planen und rechnen. So wird im Landkreis Harz die Summe von 180 000 € aus der erfolgten Abzweigung des Kindergeldes als Deckungsquelle für überplanmäßige Ausgaben für die Grundsicherung im Alter geplant und eingesetzt.“

Auch der Bundesregierung ist das Problem seit längerem bekannt. Ich verweise diesbezüglich u.a. auf meine Anfragen aus den Jahren 2010 und 2011 sowie die abwiegelnden Antworten und äußerst halbherzigen Reaktionen der Bundesregierung dazu. Schon damals erklärte die Bundesregierung, daß hier gegen geltendes Recht verstoßen wird und sie Maßnahmen zur Änderung der kritisierten Praxis ergreift. Und trotzdem wird das Kindergeld in Größenordnungen Familien mit behinderten Jugendlichen vorenthalten. Deswegen unterstützt DIE LINKE auch den hier zur Abstimmung stehenden Antrag der Grünen. Absurd die Begründungen von CDU/CSU, FDP und SPD für ihre Ablehnung bzw. Stimmenthaltung (nachzulesen in der Beschlußempfehlung, Drucksache 17/11748). Selbstverständlich: Es gibt bessere Möglichkeiten für Nachteilsausgleiche, als das gegenwärtige Kindergeldsystem. Ich nenne dafür die Vorschläge der LINKEN, nachzulesen in unserem Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz. Aber solange diese Form von bedarfsgerechten, einkommens- und vermögensunabhängigen Teilhabeleistungen nicht verwirklicht ist, muß das vorhandene System im Sinne der Betroffenen umgesetzt werden. Und das heißt u.a., daß „Kindergeldabzweigungen“ nur in wenigen begründeten Ausnahmefällen möglich sein dürfen.

Und auf ein weiteres, großes Problem möchte ich an dieser Stelle hinweisen. Wenn Eltern, in deren Haushalt ein erwachsenes behindertes Kind lebt, selbst von Hartz IV (SGBII) oder Grundsicherung (SGB XII) betroffen sind, wird ihnen in jedem Fall das Kindergeld als Einkommen angerechnet und von ihrem Regelsatz abgezogen. Hinzu kam die Einführung der Regelbedarfsstufe 3, mit der die Regelsätze für junge Menschen, die bei den Eltern leben, gekürzt wurden. Hier geht es nicht um den Umgang von einzelnen Kommunen mit Bundesgesetzen sondern um bestehendes Bundesrecht selbst. Hartz IV und die „Agenda 2010“ sind Armut per Gesetz.

Für mich bleibt es ein Skandal, wenn immer wieder bei den Ärmsten in der Gesellschaft Geld „gespart“ wird, wenn bei Familien mit Kindern und vor allem bei Familien mit Kindern bzw. Jugendlichen mit Behinderungen Geld „abgezweigt“ wird. Dabei gibt es andere Möglichkeiten, Geld für klamme Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen „abzuzweigen“, denke ich nur an unnötige Ausgaben für Banken, Konzerne, für unsinnige Großprojekte, für Rüstung und Kriegseinsätze.

(Die Rede wurde zu Protokoll gegeben.)