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„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!“

Rede von Diana Golze,

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ Dieser Satz ist nunmehr nicht nur eine Feststellung von Sozialverbänden und der Fraktion Die Linke, sondern er ist Bestandteil der Urteilsbegründung der heutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, und das ist gut so.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hartz IV ist Armut per Gesetz, und dieses Gesetz wurde heute zum zweiten Mal für verfassungswidrig erklärt; denn es widerspricht der Würde des Menschen und dem Sozialstaatsprinzip.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Das stimmt doch nicht, was Sie erzählen!)

Sehr geehrte Kollegen Kurth und Kolb, es ging eben nicht nur um die Regelsatzverordnung, sondern sehr wohl um die §§ 20 und 28 SGB II. Im Gegensatz zu Ihnen waren mein Kollege Ernst, meine Kollegin Kipping und ich heute dort und haben die Urteilsbegründung gehört. Wir haben das Urteil dabei und wissen sehr wohl, wovon wir reden.

(Beifall bei der LINKEN - Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Den Eindruck habe ich nicht!)

Ich möchte mich bei den vielen Menschen bedanken, die in den vergangenen Jahren an unterschiedlichsten Orten gegen diese gerade bei den Kindern an den Haaren herbeigezogenen Regelsätze gekämpft haben. Ich bedanke mich bei den Sozialverbänden und Initiativen, die nach Lösungsvorschlägen gesucht haben und Alternativen angeboten haben. Ich bedanke mich nicht zuletzt recht herzlich bei den Familien, die den langen Weg bis zum heutigen Tag durch die Instanzen gegangen sind und uns dieses Urteil beschert haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichtes macht deutlich: Die Regelsätze für Kinder im ALG II müssen grundsätzlich neu und eigenständig berechnet werden. Das Bundesverfassungsgericht zwingt die Regierung nun, das zu tun, was seit Jahren überfällig ist: Das Existenzminimum von Kindern muss anhand ihrer eigenen Bedürfnisse gesichert werden. Hier bescheinigt das Gericht den verantwortlichen Bundesregierungen von Rot, Grün, Schwarz und Gelb einen „völligen Ermittlungsausfall“.
Die Regelsätze für Kinder sind in zweifacher Hinsicht nicht mit der Verfassung vereinbar und verstoßen gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot. Zum einen sind sie prozentual vom Regelsatz der Erwachsenen abgeleitet, was nicht sein darf, wie wir seit heute wissen. Zum anderen ist schon der Regelsatz für Erwachsene an sich verfassungswidrig. Daran haben Rot-Grün und Schwarz-Rot unter freundlicher Genehmigung der FDP, Herr Kolb, gearbeitet. Insofern tragen Sie alle hier die Verantwortung.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben sich an die von Ihnen selbst gesetzten Regeln nicht gehalten. Sie haben ganze Ausgabenblöcke bei der Berechnung des Regelsatzes nicht einbezogen, zum Beispiel Ausgaben für Bildung. Zu diesem Punkt möchte ich noch detailliertere Ausführungen machen. Gerade hier sind die Kinder in ganz besonderer Art und Weise betroffen.
Ich bin dankbar für die Klarstellung des Gerichts, dass erstens alle Menschen ein Recht auf Teilhabe auch an Bildung haben, dass zweitens dieser Anspruch insbesondere für die Kinder gilt und dass drittens dafür nicht, wie bisher, die Bundesländer weiter verantwortlich gemacht werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat ganz klar festgestellt: Die Bundesländer sind verantwortlich für die Institution Schule, nicht aber dafür, den Zugang aller Menschen zu diesen Bildungseinrichtungen zu sichern. Das ist Bundesaufgabe. Dieser sind Sie bisher nicht nachgekommen. Dazu werden Sie nun vom Bundesverfassungsgericht gezwungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, bisher, auch heute wieder, haben Sie unsere Forderungen als Populismus, als Wünsch-dir-was-Programm oder Ähnliches bezeichnet. Ich sage nur: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

(Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Und nichts verstehen!)

Herr Brauksiepe, wenn Sie ein Problem nicht wahrnehmen wollen, dann wollen Sie es auch nicht lösen. Aber das Bundesverfassungsgericht gibt Ihnen auf, dieses Problem zu lösen. Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen, mir erstens zuzuhören

(Lachen bei der CDU/CSU)

und zweitens das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Kenntnis zu nehmen und endlich entsprechend zu handeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Für uns als Linke kann die Lösung nur sein: Die Regelsätze gerade für Menschen unter 18 Jahren müssen spürbar angehoben werden, um endlich kindgemäß zu sein. Sie müssen sich an dem Bedarf der Kinder ausrichten, wie es die Linke schon seit langem gefordert hat.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Frist, die das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, läuft bis Jahresende. Auch dies macht deutlich, dass das Gericht einen großen und dringenden Handlungsbedarf sieht. In anderen Urteilen wurde der Bundesregierung mehr Zeit als in diesem Urteil eingeräumt. Aber die Bundesregierung hat Glück im Unglück. Sie müssen nicht warten, auf neue Zahlen hoffen oder bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag irgendwelche Recherchen durchführen. Nein, es gibt belastbares Zahlenmaterial. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat eine ausführliche Expertise vorgelegt, auf die Sie sich stützen können. Ich fordere Sie auf, die Regelsätze für Kinder sofort und unverzüglich auf mindestens die Höhe der Regelsätze des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes anzuheben.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sichern Sie den bedürftigen Kindern nicht nur, wie es das Bundesverfassungsgericht auch gefordert hat, umgehend die physische Existenz, sondern sichern Sie ihnen auch die Teilhabe am sozialen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben! Die Würde des Menschen ist unantastbar. Handeln Sie endlich danach!

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)