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Hohe Unternehmenssteuern - reiner Phantomschmerz

Rede von Oskar Lafontaine,

Oskar Lafontaine zur Debatte zum Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung: Deutschland ist ein schönes Land. Hätte es die Steuer- und Abgabenquote Finnlands und Schwedens, dann würden es im Geld schwimmen. Es gäbe keine Probleme, Forschung, Bildung, öffentliche Investitionen usw. zu finanzieren. Es ist neoliberaler Irrglauben, dass man bei einer möglichst niedrigen Steuer- und Abgabenquote viel Wachstum und Beschäftigung hat.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat uns aufgefordert, Deutschland nicht schlecht zu reden, und er hat, wie es seine Pflicht ist, auch Silberstreifen am Horizont ausgemacht und festgestellt, dass die Konjunktur jetzt doch in Gang gekommen ist. (Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber gute Laune hat er keine gehabt!) Zunächst einmal, Herr Bundeswirtschaftsminister: Deutschland ist schön und es kann auch niemand bestreiten, dass es hier oder dort Daten gibt, die man so interpretieren kann, wie Sie sie interpretiert haben. Aber schon zu der Aussage, Deutschland sei schön, möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff Deutschland zu allgemein gefasst ist. Es gibt viele Deutsche. Darunter gibt es Deutsche, denen es gut geht, und es gibt Deutsche, denen es weniger gut geht. Es gibt Deutsche, die arbeitslos sind, und es gibt Deutsche, die unterhalb des Existenzminimums leben. Auch über die müssen wir reden. Das ist kein Schlechtreden Deutschlands, sondern schlicht und einfach ein Sich-Auseinander- Setzen mit der Realität, eine Aufgabe, die wir in diesem Hause nicht aus den Augen verlieren dürfen. (Beifall bei der LINKEN) Nun hat der Bundesfinanzminister in der ihm eigenen Klarheit seine Argumente vorgetragen. Das ist erfrischend. Deshalb kann man sehr gut darauf eingehen. Er hat zwei Ziele für die Regierung angegeben, nämlich die Wachstumskräfte zu stärken und den Haushalt zu konsolidieren. Wer wollte gegen diese zwei Ziele etwas haben? Die Frage ist aber, wie diese beiden Ziele zueinander in Bezug gesetzt werden; das ist die entscheidende Frage der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wenn man die Wachstumskräfte tatsächlich enorm stärken kann, dann hat man in dem Maße der Stärkung Mehreinnahmen und Minderausgaben. So zeigt sich überall in den Industriestaaten, dass auf diesem Weg die Haushaltskonsolidierung tatsächlich gelingt. Wenn der Akzent zu stark auf der Haushaltskonsolidierung liegt, dann gelingt es eben nicht, die Wachstumskräfte zu stärken, und es gelingt auch nicht, den Haushalt zu konsolidieren. Man muss doch fairerweise zugeben, dass Ihr Vorgänger im Amt enorme Anstrengungen unternommen hat, den Haushalt zu konsolidieren. Er hat aber zwei Fehler gemacht: Es gelang ihm nicht ausreichend, die Wachstumskräfte zu stärken, und er hat darüber hinaus die Einnahmen deutlich geschwächt. So landete er bei einer immer höheren Verschuldung. Die Frage ist, ob die jetzige Handlungsweise der Regierung sinnvoller und in sich stimmiger ist. Zunächst einmal zur Frage der Haushaltskonsolidierung. Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder von der Nettoneuverschuldung gesprochen. Man muss darauf hinweisen, dass diese zunächst einmal nichts über die Frage aussagt, die ich aufgeworfen habe. Die einzige Aussage, die man heranziehen kann, betrifft die Ausgabenseite. Da stellen wir fest, dass Sie angeben, in diesem Jahr genauso viel ausgeben zu wollen wie im letzten Jahr. Wenn Sie die Preiseffekte abziehen, dann haben Sie eine leicht restriktive Haushaltspolitik. Insofern kommen auch die Beobachter der Wirtschaft zu dem Ergebnis, dass die Haushaltspolitik in diesem Jahr keinen Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung leistet. Damit muss man sich rational auseinander setzen. Solange man die Ausgaben nicht steigert, kommt kein positiver Impuls - so ist nun einmal die Logik - von der Haushaltsseite zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung. (Beifall bei der LINKEN) Nun haben Sie dankenswerterweise - das möchte ich ausdrücklich anerkennen, weil das gewissermaßen eine Zäsur hier im Hause darstellt - gesagt, dass Sie auf der Einnahmeseite ein Niveauproblem haben. Ich bin dankbar, dass seit Monaten jetzt zum ersten Mal hier im Plenum die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland realistisch dargestellt wird. Wir haben nun einmal im OECD-Vergleich mit 34 Prozent eine einmalig niedrige Steuer- und Abgabenquote. Wir liegen um 6 Prozentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt. Ich möchte Ihre Unterhaltung mit der Kanzlerin nicht stören, will aber auf einen wichtigen Punkt zu sprechen kommen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, müssen sich entscheiden, welche Steuer- und Abgabenquote Sie anstreben; sonst ist alles, was hier vorgetragen wird, leeres Gesums. Man muss das in aller Klarheit sagen. (Beifall bei der LINKEN) Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist folgende: Wollen Sie auf das europäische Niveau? Es wäre ja vorstellbar, dass jemand in Deutschland den Mut hat, das europäische Niveau der Steuer- und Abgabenquote zu erreichen. Oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie weiterhin 6 Prozentpunkte unter dem europäischen Niveau bleiben? Das heißt: Wollen Sie weiterhin 130 Milliarden Euro Mindereinnahmen im Vergleich zu den europäischen Nachbarn haben? Das ist für die Konsolidierung und für die Haushaltspolitik nun wirklich keine irrelevante Frage. In diesem Zusammenhang haben Sie beispielsweise auch auf die Überschüsse Finnlands und Schwedens hingewiesen. Herr Bundesfinanzminister, die Angaben sind ja richtig; ich will Ihnen aber einen Hinweis geben: Hätte Deutschland die Steuer- und Abgabenquote dieser Länder, dann würden Sie im Geld schwimmen. Sie brauchen das nur umzurechnen. (Beifall bei der LINKEN) Wenn man schon diese Beispiele anführt, dann muss man auch die Zahlen nennen und die daraus resultierenden Konsequenzen ziehen. Sie hätten dann keine Probleme, Forschung, Bildung, öffentliche Investitionen usw. zu finanzieren. Diese Länder stellen nun einmal eine Widerlegung des neoliberalen Glaubens dar, dass man bei einer möglichst niedrigen Steuer- und Abgabenquote viel Wachstum und Beschäftigung hat, tolle Bildungseinrichtungen vorhalten kann, Forschungsausgaben finanzieren kann usw. Was in diesen Ländern geschehen ist, steht im Gegensatz zu der lange Jahre herrschenden Ideologie und ist ein Beweis dafür, dass eine hohe Steuer- und Abgabenquote sehr wohl mit einem hohen Beschäftigtenstand, einem dichten sozialen Netz und einem hervorragenden Bildungswesen einhergeht. Wir sollten in Deutschland genau die Schritte, die dort gegangen worden sind, anstreben. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben wieder auf die steuerliche Wettbewerbsfähigkeit hingewiesen. Auch der Kollege von der FDP hat darauf hingewiesen, dass dies ein Problem sei. Ich möchte deutlich sagen, dass dies in Deutschland überhaupt kein Problem ist. Herr Kollege von der FDP, Sie sagen, wir seien international nicht wettbewerbsfähig. Das ist, da wir Exportweltmeister sind, einfach nicht mehr nachvollziehbar. (Ortwin Runde (SPD): Das ist wahr!) Aber wenn Sie es einfach steuerlich gemeint haben, dann ist das schlicht falsch. (Carl-Ludwig Thiele (FDP): Nein!) Sie müssen sich von den nominalen Steuersätzen lösen - aus propagandistischen Gründen werden sie ununterbrochen angeführt - und sich der Realität stellen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Hans Mundorf, der Chefredakteur des „Handelsblatts“, hat schon vor der Steuerreform 2000 im „Handelsblatt“, geschrieben, dass die angeblich so hohe Belastung der deutschen Unternehmen mit Steuern ein reiner Phantomschmerz sei. Nach all dem, was in den letzten Jahren geschehen ist, ist das immer noch ein reiner Phantomschmerz. Wenn Sie angesichts der exorbitanten Gewinne, die die Unternehmen mittlerweile ausweisen, immer noch meinen, die Lösung der Probleme bestehe darin, die Steuerlast der Unternehmen zu senken, dann liegen Sie völlig falsch. Ich möchte das hier in aller Klarheit sagen. (Beifall bei der LINKEN) Richtig liegen Sie natürlich, wenn Sie auf die Probleme der kleinen und mittleren Unternehmen hinweisen. Die 2,9 Millionen Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte haben, profitieren von den ganzen Steuergesetzen der letzten Jahre, von der Freistellung von Veräußerungsgewinnen, von der Änderung der Körperschaftsteuersätze usw. usw., nicht. Herr Kollege Steinbrück, Sie haben hier die Einkommensteuer angesprochen. Dem ist zu entgegnen, dass 73 Prozent dieser Unternehmen den Spitzensteuersatz niemals erreichen. Insofern war dies eine Fehlentscheidung. Aus unserer Sicht ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit des Volkes dasselbe Interesse wie die kleinen und mittleren Unternehmen hat. Dieses Interesse lässt sich ganz einfach formulieren: Die 2,9 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten sind in erster Linie darauf angewiesen, dass Löhne und Renten in Deutschland endlich wieder steigen; sonst gibt es keine Erholung der Binnennachfrage. Alles andere ist schlicht kalter Kaffee. (Beifall bei der LINKEN) Herr Bundesfinanzminister, Sie haben behauptet - auch im Dialog mit Ihren Kollegen auf europäischer Ebene - , unsere Lohnstückkosten hätten sich günstig entwickelt. Dies ist an dieser Stelle noch einmal zu hinterfragen. Deutschland betreibt mittlerweile ein solches Lohndumping, dass die Europäische Währungsunion gefährdet ist. Ich weiß, dass es im Moment noch wenig Sinn hat, das hier anzusprechen; darum spreche ich es nur für das Protokoll an. Mit einem solchen Lohndumping ist die Europäische Währungsunion auf Dauer nicht zu halten. Wir haben mittlerweile Wettbewerbsvorteile von bis zu 20 Prozent gegenüber Portugal. Gegenüber Spanien und Italien ist unser Wettbewerbsvorteil etwas geringer. Wenn wir dieses Lohndumping fortsetzen, dann gefährden wir die Europäische Währungsunion und damit die europäische Einigung. (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Steinbrück, Sie haben die öffentlichen Investitionen angesprochen. Geboten ist hier einfach der Blick auf das europäische Durchschnittsniveau. Das deutsche Niveau fällt immer weiter zurück. Wenn wir nur das europäische Durchschnittsniveau erreichen wollten - das hat natürlich etwas mit der Einnahmeseite zu tun - , dann brauchten wir pro Jahr zusätzliche öffentliche Ausgaben in Höhe von 25 Milliarden Euro. Ohne ein solches Verstetigen der öffentlichen Investitionen kommt es bei uns auch nicht zu einem Wachstum und einer Beschäftigung wie in unseren Nachbarstaaten. Dies ist ein weiterer Hinweis von unserer Seite zu Ihren Ausführungen. (Beifall bei der LINKEN) Da die Zeit knapp wird, möchte ich noch etwas zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sagen. Alles, was Sie da tun, ist zu unterstützen. Aber es gibt eben viele Familien, die keine Steuern zahlen. Wenn Sie bei der steuerlichen Förderung ansetzen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, dann klammern Sie gut 20 Prozent der Bevölkerung aus. Das ist nicht gerechtfertigt. (Beifall bei der LINKEN) Auch die Menschen, die ein geringes Einkommen haben, müssen Familie und Beruf vereinbaren können. Insofern setzen Sie hier wiederum an der völlig falschen Stelle an. Nachträglich unterstützen möchte ich Ihre Aussagen zu Kontoabfragen. Es ist gut, dass ein Bundesfinanzminister dies hier einmal in aller Klarheit sagt. Das so genannte Bankgeheimnis ist nichts anderes als ein Scheinrecht, das denjenigen, die davon profitieren und die sich darauf immer wieder berufen, Steuerhinterziehung ermöglicht. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie darauf hinweisen, meine Damen und Herren, dass damit zu viel Bürokratie verbunden ist, dann möchte ich Ihnen sagen: Vergleichen Sie einmal die Bürokratie an dieser Stelle, an der es darum geht, höhere Vermögen und Einkommen zu besteuern, mit der Bürokratie gegenüber Hartz IV-Empfängern! (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie das tun, dann werden Sie sehr schnell einräumen müssen, dass hier einiges im Ungleichgewicht ist. Zusammenfassung. Ich glaube, dass Sie die entscheidende Frage nicht beantwortet haben, nämlich: Mit welchem Steuer- und Abgabensystem wollen Sie auf Dauer öffentliche Investitionen sicherstellen, bei Bildung und Forschung sowie dann auch notwendigen antizyklischen Maßnahmen mit anderen Industriestaaten konkurrieren? Was Sie bisher beschlossen haben, ist überhaupt keine Antwort darauf. Die Mehrwertsteuererhöhung - ich muss es am Schluss noch einmal sagen - ist nicht nur ein Wahlbetrug, sondern sie ist auch konjunkturell ein Schlag ins Gesicht. Die jetzt sichtbaren Wachstumskräfte reichen nicht aus, den Einbruch zu kompensieren, der im nächsten Jahr zu erwarten ist. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN)