Dass die CDU in den Haushaltsberatungen die für Hartz IV eingestellten Gelder als geheime Einsparreserve betrachtet, verwundert nun wirklich nicht. Aber wenn auch von der SPD kaum noch Gegenwehr kommt, dann kann einem das den letzten Glauben an die Sozialdemokratie rauben. Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE., in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 11 „Arbeit und Soziales“.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf wird der Kurs von Hartz IV zementiert, womöglich sogar noch verschärft. Uns sollte zu denken geben, dass durch diese Hartz-Reform die Armut in Deutschland noch verschärft wurde und dass die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die 2005 in Armut lebten, noch einmal um eine halbe Million, um 500 000, zugenommen hat. Das ist nicht nur das Urteil der Linksfraktion; das ist auch das Fazit der Wohlfahrtsverbände auf der Nationalen Armutskonferenz. Kinderarmut bedeutet, von klein auf das Gefühl des Ausgeschlossen-Seins, der Ausgrenzung von gesellschaftlicher Teilhabe erleiden zu müssen. Das Abschieben von immer mehr Menschen auf ein Abstellgleis ist auch für unser demokratisches Gemeinwesen alles andere als gut. (Beifall bei der LINKEN) Wir wären gut beraten, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir den Ausschluss von Menschen abbauen können. Dazu bedürfte es einer grundlegend anderen Arbeitsmarktpolitik, wie meine Kollegin Kornelia Möller schon ausgeführt hat. Dazu bedürfte es einer Anhebung des Arbeitslosengeldes II, wobei es sich bei einer Erhöhung auf 420 Euro nur um einen ersten Schritt handeln kann; (Beifall bei der LINKEN) denn grundsätzlich gilt: Das Arbeitslosengeld II, so wie es jetzt ausgestaltet ist, muss gekippt werden und durch eine soziale sowie repressionsfreie Grundsicherung ersetzt werden. (Beifall bei der LINKEN) Herr Brandner, Sie haben uns in diesem Zusammenhang unterstellt, wir als Linke wollten den allumfassenden Staat. Ja, es gibt Bereiche, wo der Staat nichts zu suchen hat, zum Beispiel im Schlafzimmer. (Beifall bei der LINKEN) Aber es waren Minister Ihrer Partei, die Sozialspitzel übers Land geschickt haben, um in den Schlafzimmern von Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen danach zu schauen, ob dort nicht noch jemand wohnt - nur mit dem Ziel, den Leuten die ohnehin schon geringen Leistungen zu kürzen. (Beifall bei der LINKEN) Dabei wäre es viel effizienter gewesen, im Bereich der Steuerfahndung aufzustocken; denn dort kann man eher Geld eintreiben und dem Haushalt zuführen. (Beifall bei der LINKEN) Doch anstatt mit uns gemeinsam darüber zu diskutieren, wie eine Erhöhung des Regelsatzes finanziert werden kann, häufen sich in den Reihen der großen Koalition die Stimmen, die für eine weitere Absenkung des Regelsatzes sprechen. Herr Müntefering, Sie haben gesagt, niemand habe die Absicht, dort Kürzungen vorzunehmen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Aber dieser Satz ist alles andere als beruhigend. Ich fand es sehr schockierend, dass der niedersächsische Ministerpräsident, Christian Wulff, am Wahlabend zur besten Sendezeit im Fernsehen erzählen durfte, dass das Arbeitslosengeld II viel zu hoch sei, und niemand aus den Reihen von SPD und CDU sich bemüßigt fühlte, ihm in dieser Frage zu widersprechen. (Beifall bei der LINKEN) Dass die CDU in den Haushaltsberatungen die für Hartz IV eingestellten Gelder als geheime Einsparreserve betrachtet, verwundert nun wirklich nicht. Aber wenn auch von der SPD kaum noch Gegenwehr kommt, dann kann einem das den letzten Glauben an die Sozialdemokratie rauben. Herr Schneider, 345 Euro im Monat bedeuten Armut per Gesetz. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist doch erhöht worden!) Wer nun über eine weitere mögliche Absenkung auch nur nachdenkt, der denkt darüber nach, Menschen noch weiter massenweise ins Elend zu treiben. Herr Müntefering, Sie haben eine Absenkung auf 225 Euro dementiert; aber Sie haben Kürzungen nicht generell ausgeschlossen. Solche Zwischentöne stimmen mich nachdenklich. Es kann und darf nicht Ihr Ernst sein, dass Sie ausgerechnet bei den Leuten, die ohnehin nichts haben, die Daumenschrauben weiter anziehen wollen. (Beifall bei der LINKEN - Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf? Er hat doch genau das Gegenteil gesagt! Sie verunsichern doch die Leute! Das ist doch absurd! Wir haben das Arbeitslosengeld II doch erhöht!) - Herr Schneider, es lohnt sich in der Politik manchmal, genauer zuzuhören. Wenn ein Minister, der sonst sehr redselig ist, nun eine Kürzung nicht grundsätzlich ausschließt, dann gibt uns das zu denken. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie irgendwann einmal deutlich machen, dass Kürzungen nicht vorgenommen werden sollen. Aber es ist ja nicht nur darüber zu diskutieren, dass nicht gekürzt werden darf; eigentlich müssten wir über eine Erhöhung beim Arbeitslosengeld II nachdenken. (Beifall bei der LINKEN) Wie es wäre, von 345 Euro im Monat zu leben, überfordert sicherlich die Fantasie vieler von uns. Deswegen lohnt es sich, noch einmal darzustellen, was das ganz praktisch bedeutet. Für Freizeitveranstaltungen, Zeitungen, Bücher und Schreibwaren stehen pro Tag noch nicht einmal 90 Cent zur Verfügung. Haben Sie einmal versucht, für weniger als 1 Euro eine ordentliche überregionale Tageszeitung zu kaufen? (Waltraud Lehn [SPD]: Es gibt Büchereien!) Die „taz“, die „FAZ“, die „FR“, die „Welt“, die „Financial Times“, selbst das „ND“ sind für Arbeitslosengeld-II-Empfänger ein Luxus, den sie sich vom Regelsatz nicht mehr leisten können. Selbst wenn sie noch eine billigere Tageszeitung finden, stehen sie jeden Tag vor der Entscheidung, sich diese Tageszeitung zu leisten oder Geld anzusparen, um wenigstens einmal im Monat ins Theater gehen zu können. (Beifall bei der LINKEN - Waltraud Lehn [SPD]: Oder man geht in die Bibliothek, die es überall gibt, und liest sie da! Meine Güte!) - Da Sie auf die Bibliotheken verweisen: Ein Ergebnis - vielleicht ist es Ihnen entgangen - der von Ihnen mit zu verantwortenden Steuerpolitik ist, dass die Kommunen immer weniger Geld haben und in immer mehr Bibliotheken Gebühren eingeführt werden müssen, sodass sich so mancher Erwerbslose nicht einmal mehr den Gang in die Bibliothek leisten kann. (Beifall bei der LINKEN) Das gehört zur ganzen Wahrheit mit dazu. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist ja bar jeder Kenntnis der Sache!) Leben in Armut bedeutet schon deswegen ein Erleben von Ausschluss, weil man sich die nötige Mobilität nicht leisten kann. In meinem Wahlkreisbüro treffen sich regelmäßig Mitglieder des Erwerbslosenrates. Immer wieder berichten Einzelne, dass sie gerne zu einer Diskussionsrunde gekommen wären, sich aber am Ende des Monats die Fahrkarte nicht mehr leisten konnten. Das ist kein Wunder: Für die gesamte Mobilität stehen pro Tag 64 Cent zur Verfügung. Dafür bekommt man noch nicht einmal eine Kurzstreckenfahrkarte. Während wir Abgeordneten in Berlin die Wahl zwischen kostenlosem Fahrdienst zu jeder Tageszeit und kostenloser Monatskarte für Bus und Bahn haben, haben Erwerbslose gerade in ländlichen Regionen enorme Probleme, sich überhaupt noch die Fahrt zu den verschiedenen Ämtern leisten zu können. Für Bekleidung und Schuhe sind noch nicht einmal 35 Euro im Monat vorgesehen. Meine Damen und Herren, wer damit auskommt, muss ein wahrer Lebenskünstler sein. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich frage Sie: Wie soll jemand, der nicht einmal das Geld für einen ordentlichen Anzug für ein Bewerbungsgespräch hat, überhaupt noch Aussicht auf einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt haben? (Beifall bei der LINKEN) Auch wenn Sie, meine Damen und Herren auf der rechten Seite, offensichtlich einen anderen Kurs verfolgen, können wir nur sagen: Es ist längst überfällig, über eine Erhöhung des Regelsatzes zu diskutieren und diese in Angriff zu nehmen, allein schon deswegen, weil nach der alten Berechnung auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe völlig unberechtigte Fehlgriffe passierten. Wenn wir den Regelsatz auf 420 Euro erhöhen, dann handelt es sich nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes um nichts anderes als um den Ausschluss von Manipulationen. Es wird höchste Zeit, dass wir das in Angriff nehmen. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das Geld gleich mitbringen!) Wir als Linkspartei werden entsprechende Vorschläge unterbreiten. Ich kann Ihnen nur empfehlen, noch einmal darüber nachzudenken, ob es nicht an der Zeit ist, der zunehmenden Armut in diesem Land etwas entgegenzusetzen. Danke.
Hartz IV - weitere Kürzungen nicht ausgeschlossen!
Rede
von
Katja Kipping,