Derzeitige Praxis der Notversorgung widerspricht Menschenrechten
Harald Weinberg (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschen fliehen zu uns, weil weite Teile ihres Landes durch Krieg zerstört wurden wie in Syrien oder ihr Leben durch Bürgerkriege und Stammesfehden bedroht ist wie in Westafrika. Sie entkommen politischer Verfolgung in repressiven Regimen wie in Eritrea. Meistens haben sie eine gefährliche Reise hinter sich. Das sind Frauen, Männer, Familien, Kinder und Jugendliche – Menschen, die in ihrer Heimat nicht mehr leben können. Oft sind sie schwerst traumatisiert nach Folterungen, Massenvergewaltigungen, Gewalt und Hunger. Sie haben ein Anrecht auf eine menschenwürdige Behandlung.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU])
Daher haben wir den vorliegenden Antrag eingebracht, wonach Flüchtlingen die gleiche gesundheitliche Versorgung zustehen soll wie gesetzlich Krankenversicherten. Bisher erhalten Flüchtlinge nur Leistungen bei akuten Krankheiten, Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft, und auch das nur, nachdem sie auf dem Sozialamt vorgesprochen, den dortigen Mitarbeiter von der Notwendigkeit einer Behandlung überzeugt und einen Behandlungsschein erhalten haben. Wir wollen das ändern.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Denn die Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung sind nach § 12 Sozialgesetzbuch V gesetzlich auf das Notwendige beschränkt. Weniger als das Notwendige verletzt das Recht auf Gesundheitsversorgung. Daher wollen wir, dass jeder Flüchtling eine Gesundheitskarte erhalten und sämtliche notwendigen Leistungen bekommen soll, ohne zuvor zum Sozialamt zu müssen. Für uns ist das eine klare Sache; denn die notwendige gesundheitliche Versorgung betrifft die menschliche Existenz und ist damit ein ganz wesentliches soziales Menschenrecht und eine internationale Verpflichtung der Bundesrepublik.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich hoffe, dass die Argumente, die in der Vergangenheit gegen diesen Vorschlag geäußert wurden, dieses Mal nicht wieder Anwendung finden. Bei diesen Argumenten ging es meist um Abschreckung; ich erinnere an das Wort von der „Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“. Nach unserer Ansicht sind das alles Argumente, die nicht greifen dürfen, weil die Praxis der Notfallversorgung einen zigtausendfachen systematischen Verstoß gegen soziale Menschenrechte in Deutschland darstellt. Das muss aufhören. Menschenrechte haben immer Vorrang vor falschen migrationspolitischen Erwägungen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Einschränkung der Gesundheitsversorgung auf Akutleistungen ist auch sachlich nicht haltbar, weil sie weite Interpretationsspielräume eröffnet und damit Rechtsunsicherheit bei allen Beteiligten verursacht. Zum Beispiel sind chronische Krankheiten grundsätzlich ausgeschlossen. Dennoch muss ein Diabetiker natürlich Insulin erhalten. Es wäre unverantwortlich, den Leistungsausschluss für chronische Krankheiten ernst zu nehmen und zu warten, bis ein diabetischer Schock eingetreten ist, um dann die akute Krankheit zu therapieren. Vergleichbare Probleme gibt es auch mit anderen chronischen Krankheiten.
Nach den bisherigen Erfahrungen in Bremen und Hamburg würde der einfache Zugang zu Gesundheitsleistungen wenig kosten und spart auch noch Geld. In Bremen gibt es einen Vertrag mit der AOK, wonach heute schon dort lebende Asylsuchende eine Gesundheitskarte bekommen. Dennoch kostet diese Lösung das Land Bremen nicht mehr Geld als zuvor. Das liegt größtenteils daran, dass die Verwaltungskosten, die im Zusammenhang mit einer Genehmigung der Anträge auf Gesundheitsleistungen beim Sozialamt entstehen, ersatzlos entfallen können. Für die Gesundheitskarte zahlt die Stadt einen pauschalen Beitrag an die Krankenkasse.
Hinzu kommt, dass Flüchtlinge aufgrund der bisher hohen Schwellen nicht zum Arzt gehen und Krankheiten verschleppen. Das macht die Behandlungen schlussendlich teurer. Da ist es günstiger, ihnen die Gesundheitskarte zur Verfügung zu stellen. Auch die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, beispielsweise durch Impfungen, findet derzeit zu wenig statt, obwohl darauf auch nach heutiger Gesetzeslage schon ein Rechtsanspruch besteht. Das alles sind gute Gründe, die für eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge sprechen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber ich bin Realist genug, um zu wissen, dass die Koalition unserem Antrag voraussichtlich nicht zustimmen wird. Nach dem Flüchtlingsgipfel im Bundeskanzleramt habe ich aber die Hoffnung, dass die Bundesregierung den Ländern die Durchführung des Bremer Modells immerhin leichter machen will und dass sich damit nach Jahren der Stagnation etwas bewegt.
(Beifall bei der LINKEN)
Das wäre zwar eine Verbesserung, aber das reicht nicht aus. Ich bitte Sie, bundesweit verpflichtend eine Gesundheitskarte für alle in allen Bundesländern einzuführen
(Beifall bei der LINKEN)
und den Leistungsanspruch auf das Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung anzugleichen. Ganz wichtig wäre es auch, eine Lösung für die Hunderttausende illegal in Deutschland lebenden Menschen ohne Meldeadresse zu finden; denn diese Menschen haben zwar qua Gesetz einen Leistungsanspruch, aber die Arztpraxen und Krankenhäuser bleiben regelmäßig auf den Kosten sitzen.
Wenn Sie das alles regeln, liebe Koalition, dann hat unser Antrag trotz Ablehnung etwas Gutes bewirkt, und das wäre ja schön.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)