Rede zum Aktionsplan "Ernährung und Bewegung" der Bundesregierung
(Manuskript - Es gilt das gesprochene Wort.)Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
in den letzten dreißig Jahren haben sich unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen enorm verändert.
Wir sitzen heute mehr als 7 Stunden täglich und gehen kaum noch zu Fuß. Wir haben immer mehr Stress und arbeiten unter enormem Termindruck. Wir haben nicht mehr drei, sondern dreißig Fernsehkanäle zur Auswahl und konsumieren nebenbei Fertigpizzen, Chips, Süßigkeiten, Softdrinks und anderen Kalorienbomben.
Viele Kinder und Jugendliche bewegen scheinbar ihre virtuellen PC-Helden mehr als sich selbst.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Übergewicht und Bewegungsmangel nicht nur im Fehlverhalten Einzelner begründet ist, sondern ein strukturelles Problem in Industriestaaten.
Abspeck-Appelle und Bewegungstipps helfen daher auch nicht weiter, solange die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind:
kontraproduktiv für gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung.
Wenn es Ihnen, Herr Minister Seehofer, wirklich ernst ist mit dem gesellschaftlichen Fettabbau, dann wird es Zeit, dass Sie in ihren Nationalen Aktionsplan Bewegung hinein bringen und um die eine oder andere konkrete Initiative ergänzen. Bloße Appelle reichen nicht.
Eine Möglichkeit wäre da zum Beispiel eine einheitliche gesetzliche Kennzeichnung von Lebensmitteln, damit Verbraucherinnen und Verbraucher sich schnell, einfach und verlässlich über Qualität und Nährwert von Lebensmitteln informieren können. Dazu bringen Sie in ihrem Eckpunktepapier jedoch keinen konkreten Vorschlag.
Dabei wäre es so einfach. Wir bräuchten nur mal nach Großbritannien schauen. Über die so genannte Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln kann man durchaus unterschiedlicher Auffassung sein.
Aber es ist ein einheitliches und vor allem leicht verständliches System, das Verbraucherinnen und Verbraucher schnell und übersichtlich informiert:
über den Gehalt an Zucker, Salz, Fett und ungesättigten Fettsäuren. Die Ampelfarben rot, gelb und grün zeigen die Dickmacher in den Lebensmitteln schnell.
Natürlich ist die englische Lebensmittelindustrie nicht amüsiert über Absatzeinbußen bei ihren rot gekennzeichneten Fertigprodukten. Aber bei den VerbraucherInnen scheint die Kennzeichnung ganz gut anzukommen.
Obwohl die Regierung in Deutschland noch nicht im Traum daran denkt, laufen die Interessenvertreter der Lebensmittelindustrie schon Sturm gegen solche Modelle.
Süßigkeiten, Limonaden und Softdrinks, Frühstücksflocken und auch Fertiggerichte sind in unserer Gesellschaft ein Milliardengeschäft. Deshalb wird seit Jahren getrickst und verschleiert mit Begriffen wie „kalorienarm“ oder „light“. Zuckerbomben werden mit dem Slogan „Null % Fett“ angepriesen.
Zur Erhaltung ihres Profits will die Lebensmittelindustrie unbedingt vermeiden, dass ihre Produkte deutlich sichtbar in „gesund“ oder „ungesund“ unterteilt werden. Und sie hat dafür volle Rückendeckung vom Verbraucherministerium.
Viele Vorschläge prallen bisher an der Bundesregierung ab, zum Beispiel
• das Verbot von Süßigkeiten- oder Cola-Automaten in Schulen,
• die Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung für Süßigkeiten und
• ein Verbot von Werbefilmen für solche Produkte vor 21 Uhr.
Herr Staatssekretär Lindemann vom Verbraucherministerium hat sich dazu vor der Lebensmittelllobby eindeutig positioniert. Er hat den Anwesenden beim letzten Neujahrsempfang versichert - ich zitiere:
„Ich weiß, dass viele von Ihnen an diesem Punkt sehr sensibel sind. Auch die Bundesregierung hält nichts von rechtlichen Regelungen in derartigen Fragen. […]“
Und wo er schon mal dabei war, hat er auch gleich versichert, dass auch die von der WHO in ihrer „Charta zur Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas“ geforderten fiskalpolitischen Maßnahmen abgelehnt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir müssen nicht alles umsetzen, was uns renommierte internationale Organisationen empfehlen und wir müssen auch nicht alles nachmachen, was andere Länder uns vormachen. Aber dann sollten wir doch wenigstens selber aktiv werden und nicht nur heiße Luft produzieren. Heiße Luft ist nur in der Sauna gesund.
Wir wissen alle, dass Übergewicht und Adipositas in einkommensschwachen und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich häufig auftreten.
Das ist aber nicht nur eine Frage der Bildung und des Wissens um gesunde Ernährung.
Gesunde Ernährung ist nicht zuletzt eine Frage des Geldbeutels. Wer von einem Niedriglohn oder von Hartz IV leben muss, hat kaum 5 Euro täglich für Lebensmittel zur Verfügung.
Das reicht nicht für Bio-Produkte. Das reicht noch nicht mal für konventionelles gesundes Essen. Wer beim einkaufen mit jedem Cent rechnen muss, schaut mehr auf die Zahlen auf dem Kassenbon als auf die in der Nährwerttabelle.
Dann wird eben nicht frisches Obst und Gemüse gekauft, sondern Konserven und billige Fertiggerichte - die mit dem besonders hohen versteckten Fettgehalt. Der direkte Produktvergleich belegt, dass billigere Produkte meist mehr Fett, Salz oder Zucker enthalten als teurere.
Nach meiner Auffassung sollten jedoch alle Verbraucherinnen und Verbraucher - unabhängig von ihrer Kaufkraft - die Möglichkeit haben, sich gesund und vitaminreich zu ernähren.
Dazu gehört dann auch, dass die Gemeinschaftsverpflegung verbessert wird, insbesondere an Schulen und in Kindertagesstätten.
Statt Milchschnitte und Schokoriegel brauchen wir ein gesundes Frühstücksbuffet in Kitas und Kindergärten natürlich von Vater Staat finanziert.
Und wir brauchen natürlich gemeinsames Kochen und Ernährungserziehung. Wir brauchen mehr Schulsport, eine 3. Sportstunde in der Woche zum Beispiel. Und wir brauchen natürlich mehr Förderung von Sportvereinen für die BetreuerInnen und Jugendleiter.
Und natürlich kostet das alles Geld.
Aber sind ihnen das unsere Kinder nicht wert?
Dankeschön.