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Gesetzeswidrige Rechtsprechung

Rede von Wolfgang Neskovic,

Für bundesweite Empörung sorgte im letzten Jahr der Fall der Berliner Kassiererin ”Emmely”. Weil sie zwei Pfandbons im Werte von 1.30 Euro unterschlagen haben soll, wurde ihr fristlos gekündigt. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte die Kündigung und folgte darin einer gesetzeswidrigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Notwendig ist eine Präzisierung des gesetzlichen Kündigungsschutzes, mit der Bagatell- und Verdachtskündigungen künftig ausgeschlossen werden. Die Fraktion DIE LINKE hat im Deutschen Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Wolfgang Nešković erläuterte diesen Entwurf und die ihm zugrundeliegende Problematik in der 21. Sitzung des Deutschen Bundestages.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren,

was ist Gerechtigkeit? Der Dichter Erich Fried hat versucht, diese Frage zu beantworten. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, dass es nahezu unmöglich ist, eine befriedigende Definition für Gerechtigkeit zu finden. Hingegen sei es einfach zu wissen, was ungerecht ist.

Er hat gemeint: Die Ungerechtigkeit liege offen am Weg und der Kampf gegen die Ungerechtigkeit sei der Weg zur Gerechtigkeit. Jeder von uns kann sehen, was ungerecht ist.

So ist es ungerecht, einer Kassiererin nach 31 Jahren zu kündigen, weil man sie verdächtigt, zwei Pfandbons im Werte von 1.30 Euro unterschlagen zu haben. Es ist ungerecht, eine Altenpflegerin auf die Strasse zu setzen, weil sie Maultaschen mitnahm. die bereits für die Mülltonne bestimmt waren. Es ist ungerecht, einem Bäcker fristlos zu kündigen, weil er einen Teelöffel Schafskäsepaste probiert hatte, nachdem Kunden über einen versalzenen Belag geklagt hatten. Es ist ungerecht, einen Industriearbeiter zu entlassen, weil er sein Handy an der Firmensteckdose aufgeladen hatte. Schaden: 0.014 Cent.

Diese Fälle sind schwer glaublich, dennoch sind sie geschehen und spiegeln wirkliche Ungerechtigkeiten im Arbeitsleben von Menschen wieder.

Der Arbeitsplatz hat in unserer Gesellschaft für Arbeitnehmer und ihre Existenz eine herausragende Bedeutung. Er bildet die wirtschaftliche Existenzgrundlage für sie und ihre Familien. Lebenszuschnitt und Wohnfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Dies alles wird mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gefährdet oder sogar zerstört. Deswegen genießt der Arbeitnehmer über das Sozialstaatsprinzip den Schutz unserer Verfassung.

Dem Interesse des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes steht allerdings das Interesse des Arbeitgebers entgegen, sein Eigentum zu schützen. Genau diese Interessenabwägung ist auch in der gesetzlichen Vorschrift des § 626 BGB angelegt.

Die Auswertung der Rechtsprechung zeigt jedoch, dass diese Abwägung - bis auf wenige Ausnahmen - im Ergebnis nicht vorgenommen wird.

Trotz vermeintlicher Abwägung der Umstände des Einzelfalles wird stets als Ergebnis die nicht wiederherstellbare Zerstörung des Vertrauens des Arbeitsgebers festgestellt, die angeblich eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für diesen unzumutbar macht.
Dies wird exemplarisch durch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes Berlin-Brandenburgs im Falle der Kassiererin Emmely belegt. Das Gericht führt in einem kurzen Absatz aus, dass zugunsten der Arbeitnehmerin ein 31 Jahre unbeanstandetes Arbeitsverhältnis, ihr Alter und daher geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie der nicht nennenswerte Schaden in Höhe von 1.30 Euro sprechen. Danach wird dargelegt, warum das Vertrauen der Arbeitgeberin unrettbar zerstört sei und die nach dem Gesetz vorgesehene Abwägung wird anschließend verweigert.

Diese Rechtsprechung wird von der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts mit trotziger Uneinsichtigkeit verteidigt. Ihr fehlt ganz offensichtlich das ganz normale Gefühl für Ungerechtigkeit.

In all diesen Fällen handelt der Arbeitnehmer nicht mit krimineller Energie gegen den Arbeitgeber, um diesen zu schädigen.
Regelmäßig handelt er aus Sorglosigkeit, Unbekümmertheit und Unbedarftheit.

Damit ist ein solches Verhalten zwar nicht entschuldigt oder rechtmäßig, aber die Kündigung mit ihren weitreichenden Auswirkungen auf den Arbeitnehmer und seine Existenz stellt eine unverhältnismäßige Reaktion auf das Fehlverhalten des Arbeitnehmers dar.

Denn hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist ein zentrales Prinzip unserer Rechtsordnung.

Deswegen reicht eine Abmahnung in solchen Fällen als eine angemessene Reaktion aus.

Da die Rechtsprechung überwiegend uneinsichtig bleibt, ist nunmehr der Gesetzgeber gefragt.

Er muss diese Rechtsprechung des kalten Herzens, der jedes Gespür für die Lebenswirklichkeit abhanden gekommen ist, unmissverständlich an die gesetzgeberische Kandare nehmen.

Dafür bietet unser Gesetzentwurf eine ausreichende Grundlage. Der Gesetzentwurf der SPD kann dies nicht leisten, weil er lediglich die neuere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts festschreiben will.