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Gesetz mit vorsätzlichen Unterlassungsfehlern

Rede von Ilja Seifert,

Dr. Ilja Seifert, MdB

Rede zum Thema Contergan am 25. April 2013, TOP 10

Anrede

DIE LINKE wird dem Gesetzentwurf zustimmen, weil er die Lebensbedingungen für viele Conterganopfer und ihre Angehörigen verbessert.

Das ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen, engagierten Kampfes vieler Contergangeschädigter und ihrer Familien. Es ist in erster Linie ihr Erfolg.

Und ich meine, auch die Unterstützung der LINKEN trug dazu bei. Dies begann mit einer Kleinen Anfrage im Juni 2006 und zieht sich bis zu unserem Antrag durch, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht.

Wir feiern heute einen Erfolg. Auch ich, und zwar gemeinsam mit Betroffenen. Dennoch ist Kritik vonnöten:

Sie, geehrte Damen und Herren von der Fünf-Parteien-Koalition, hatten - genau wie ich - in den letzten Wochen eine Vielzahl von Gesprächen sowie schriftlichen Kontakten mit Conterganopfern. Sie lasen die Studie und die Handlungsempfehlungen der Uni Heidelberg. Sie erlebten die Anhörung am 1. Februar mit mehr als 200 Teilnehmern. Sie haben die Sachverständigen im nichtöffentlichen Fachgespräch am 15. April angehört.

Es gibt sehr einleuchtende Vorschläge. DIE LINKE legte bereits im Oktober 2012 ihren Antrag (Drs. 17/11041) vor. Dieser entstand im intensiven Dialog mit Betroffenen. Und es gibt Stellungnahmen und Vorschläge von verschiedenen Conterganverbänden sowie von der Anwaltskanzlei Menschen & Rechte.

Und trotzdem, Sie schusterten – vergleichbar mit dem Gesetzgebungsverfahren vor der Bundestagswahl 2009 – in unnötigem Eiltempo einen Gesetzentwurf hin, der viele Fragen offen und Probleme ungelöst läßt.

Meinen Sie wirklich, daß eine Entschuldigung seitens des Bundestages, der Bundesregierung, der Justiz und des Landes NRW für ihren Anteil an dem fortwährenden Conterganskandal nicht nötig wäre?

Meinen Sie wirklich, daß es richtig ist, wenn die Schadensverursacher – die Firma Grünenthal und die milliardenschwere Eigentümerfamilie Wirtz – nicht angemessen an den Kosten beteiligt werden?

Meinen Sie wirklich, daß die Conterganrente, vor allem bei Schwerstgeschädigten mit hohem Assistenzbedarf reicht, um sie aus der Armutsfalle des SGB XII herauszuholen?

Meinen Sie wirklich, daß man trotz der Ergebnisse aus der Studie der Uni Heidelberg die Spät- und Folgeschäden weiterhin unberücksichtigt lassen kann?

Meinen Sie wirklich, trotz der Deckelung des Fonds für besondere Bedarfe ein praktikables Verfahren hinzubekommen?

Meinen Sie wirklich, daß die beim Fachgespräch vorgelegte – nicht erklärbare - Rententabelle gerechter ist als ein einheitlicher Wert je Schadenspunkt?

Meinen Sie wirklich, daß man ohne strukturelle Änderungen in der Stiftung den Rechtsfrieden herstellen kann?

Meinen Sie wirklich, die berechtigten Ansprüche und Forderungen der Conterganopfer mit weniger als 10 Schadenspunkten, der von Ausschlußfristen Betroffenen sowie der im Ausland lebenden Conterganopfer mit den Gesetzesänderungen befriedigend berücksichtigt zu haben?

Nein, Sie meinen das nicht wirklich. Das, was Sie hier tun, ist vorsätzliche Unterlassung!

Ja, auch ich teile die Freude auf die zu erwartende Rentenerhöhung. Aber sie wird für rund 20 Prozent der Conterganopfer nicht reichen, um ein selbstbestimmtes Leben oberhalb des Existenzminimums zu ermöglichen. Dies betrifft vor allem diejenigen mit hohem Bedarf an Assistenz und Pflege. Es erfolgt eben kein vollständiger Schadensausgleich.

Eine Reihe von Fragen wird über Richtlinien geklärt. Hier ist der Bundestag leider nicht beteiligt. Und ich verhehle nicht, daß ich der Exekutive gegenüber skeptisch bin.

Aber ich bin sicher: Was wir heute hier beschließen, darf kein Schlußgesetz sein. Der kommende Bundestag wird sich sehr bald nach seiner Konstituierung – nicht erst nach zwei Jahren - erneut mit der Problematik befassen und befriedigende Lösungen für all die von mir genannten und noch etliche weitere Fragen finden müssen.

Im Zeichen der UN-Behindertenrechtskonvention wird die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen die Regelungen für die Conterganopfer aufgreifen und weiterentwickeln. Einkommens- und vermögensunabhängig. Diskriminierungsfrei.