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Freiheit lässt sich nur mit Hilfe des Rechtsstaates sichern, niemals durch seine Preisgabe!

Rede von Wolfgang Neskovic,

"Bei der so genannten großen Justizreform geht es um die Abschaffung ganzer Instanzenzüge. Unter dem Einfluss der großen Koalition soll nicht die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern die schnelle und möglichst kostengünstige Herstellung eines Rechtsprechungsproduktes die Aufgabe der Justiz sein. Unter dem schwarz - roten Einfluss denkt man laut darüber nach, die Prozesskostenhilfe zusammenzusparen. Wer aber am Rechtsstaat sparen will, trifft zu allererst die Schwachen in der Gesellschaft. Wolfgang Neskovic, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 19 "Justiz":"

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Zypries, ich muss es Ihnen so deutlich sagen: Die Justiz- und Rechtspolitik ist bei Ihnen in schlechten Händen. (Unruhe bei der CDU/CSU und der SPD - Joachim Stünker [SPD]: „Frau Ministerin“ müssen Sie sagen!) - Ich freue mich, dass sich die Claqueure wieder richtig einstimmen. Ich weiß ja, dass ich derjenige bin, der den Blutdruck des Parlaments immer in besonderer Weise hochtreibt. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nehmen Sie sich mal nicht so wichtig!) Eine rechtspolitische Handschrift - insbesondere eine sozialdemokratische - ist bei Ihnen nicht ersichtlich. Das war bei Ihrer Vorgängerin noch ganz anders. (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Die Zusammenhänge kennen wir! - Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen sind Sie auch aus der SPD ausgetreten!) Ihre Politik ist fragmentarisch. Frau Dyckmans hat es völlig zu Recht gesagt: Es ist keine Politik aus einem Guss. - Vor allem sind keine Schwerpunkte ersichtlich, denen man entnehmen könnte, welche rechtspolitischen Themen Ihnen eine Herzensangelegenheit sind. Themen, die bei Ihnen sogar eine politische Leidenschaft entfachen könnten, sind nicht erkennbar. Technokratisch arbeiten Sie das ab, was Ihnen durch das Sammelsurium des Koalitionsvertrages aufgegeben wurde. Sie erweisen sich nicht als engagierte Verfechterin des sozialen Rechtsstaates. Sie stärken die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter nicht und Sie sorgen sich auch nicht um eine schleichende Auszehrung der Judikative. Insbesondere treten Sie einer unerträglichen Ökonomisierung der Justiz (Joachim Stünker [SPD]: Was ist denn das?) nicht entgegen, die vor allem die Schwachen in unserer Gesellschaft trifft. Unter Ihrem Einfluss soll nicht die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern die schnelle und möglichst kostengünstige Herstellung eines Rechtsprechungsproduktes die Aufgabe der Justiz sein. Unter Ihrem Einfluss denkt man laut darüber nach, die Prozesskostenhilfe zusammenzusparen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Zypries muss ja sehr einflussreich sein!) Dabei wird übersehen, dass damit die friedensstiftende Funktion des Rechts gleich mit eingespart wird. Sie müssen sich einmal die Folgen dieses Vorhabens bewusst machen: Mit jedem Menschen, den wir aus dem Bezug der Gewährungen dieser Gesellschaft herausdrängen, riskieren wir es, einen Befürworter dieses Staates und seiner Werteordnung zu verlieren. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Zu denen gehören Sie sowieso nicht!) Bei der so genannten großen Justizreform geht es um die Abschaffung ganzer Instanzenzüge. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wird doch gar nicht gemacht!) Auch dadurch wird den Bürgern ihr Anspruch auf eine gerechte und fundierte Streitentscheidung genommen. Das kann ich als Richter, der in diesem Beruf 27 Jahre tätig gewesen ist, sagen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das war wohl nicht genug, wenn man Ihre Fehleinschätzung hört!) Frau Zypries, es ist auf Ihren Einfluss zurückzuführen, dass nunmehr den Ländern der Strafvollzug übergeben werden soll; dazu haben Sie einiges ausgeführt. Sie geben damit den grundgesetzlichen Resozialisierungsauftrag aus Ihren Händen, wohl wissend um die Finanznot der Länder. Die Folge ist - das haben Sozialdemokraten zu verantworten -, dass es nach Sozial- und Lohndumping nunmehr auch ein Strafvollzugsdumping geben wird. Das ist Ihre Politik. (Beifall bei der LINKEN - Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das ist Quatsch, was Sie da sagen!) Sie riskieren - das wissen Sie sehr wohl, die ganze Fachwelt bestätigt es Ihnen - einen Wettlauf um die kostengünstigste Verwahranstalt, der nur neue Straffälligkeiten und neue Prozesse auslösen wird. Das Strafvollzugsgesetz war einmal ein Herzstück sozialdemokratischer Politik und ein Markenzeichen Jochen Vogels. Selbst wenn das Gesetz bis heute weitgehend nicht umgesetzt wurde, hat es doch deutlich gemacht, zu welch großen Würfen sozialdemokratische Rechtspolitik fähig ist. Mit der nunmehr neuen Politik lassen Sie den Sozial- und Rechtsstaat im Stich, und zwar - Sie haben es selbst gesagt - ohne finanzielle Not. Das Justizressort ist weder besonders kostenträchtig noch aufgebläht. Der Anteil des Justizhaushalts - Sie haben es gesagt - beträgt lediglich 0,13 Prozent. Aus dem Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben ergibt sich eine Deckungsquote von circa 97 Prozent. Diese Quote kann kein anderes Ressort aufweisen. Dieses Ressort finanziert sich aus eigener Kraft. Anstatt nun Gesetze zu schaffen, die den Menschen tatsächlich nützen, werden unter Ihrer Mitwirkung Gesetze gemacht, die kurz darauf vor dem Bundesverfassungsgericht qualvoll verenden. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denken Sie nur an das gescheiterte Luftsicherheitsgesetz! Dabei wäre es Ihre Pflicht gewesen, Herrn Schily die Verfassungswidrigkeit seines Vorhabens klar zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Oder denken Sie an das Europäische Haftbefehlsgesetz, bei dem Ihr Haus federführend versagte. Sie produzieren Murksgesetze. Sie widersprechen nicht im Kabinett, wenn Ihre Kollegen Murks fabrizieren, obwohl dieser Widerspruch Ihre Ressortpflicht wäre. Beim Zollfahndungsdienstgesetz haben wir leider vergeblich versucht, der Mehrheit in diesem Hause schon vor Jahreswechsel klar zu machen, dass das Gesetz - befristet oder nicht, Herr Kauder - die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ignoriert, weil es noch immer keine Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthält. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) Lag es nun daran, dass der Rat von uns kam oder dass Sie sich von der Verfassung generell nicht ärgern lassen? Sie haben sich damals wieder einmal entschlossen, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das Sie sehr bald mit großem Aufwand werden novellieren müssen, weil es verfassungswidrig ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Man wird sehen!) - Ja, wir werden sehen. Frau Ministerin Zypries, Sie haben im „Tagesspiegel“ vom 20. Januar 2006 gesagt: Unsere Freiheit lässt sich nur mit Hilfe des Rechtsstaates sichern, niemals durch seine Preisgabe. Das war schön gesagt. Frau Zypries, Sie sind die Chefin des „Rechtsstaatsministeriums“ und haben es damit selbst in der Hand, die schleichende Preisgabe des Rechtsstaats aufzuhalten. Damit bin ich bei einem weiteren Murksgesetz, das bei Ihnen in der Schublade liegt, das so genannte Untätigkeitsbeschwerdengesetz; ein furchtbares Wort, aber es entspricht dem Inhalt dieses Gesetzes. (Beifall bei der LINKEN) Mit diesem Gesetz wollen Sie überlange Gerichtsverfahren verhindern. In erster Linie verhindern Sie aber die Unabhängigkeit der Richter, weil Sie ihnen das nehmen, was sie für ihre Entscheidungsfindung unentbehrlich benötigen, nämlich Zeit. Sie gewinnen dabei keinen Pfifferling für den Rechtssuchenden. Statt eines Ersatzanspruches in Geld für ein verzögertes Verfahren geben Sie ihm ein zusätzliches Verfahren an die Hand, mit dem er dann Verzögerungen rügen darf. Für diese Art von Hilfe wird er sich bedanken. Das ist so, als würden Sie einem Ertrinkenden ein Glas Wasser reichen. Noch nicht einmal aus dem Blickwinkel der Ausgabenseite macht diese Initiative Sinn. Sicherlich können Sie anführen, das Instrument der Untätigkeitsbeschwerde nehme sich gegenüber einem echten Ersatzanspruch in Geld recht kostengünstig aus. „Billig“ wäre das richtige Wort und die Logik dieses Gedankenganges ist es auch. Denn wenn sich die Gerichte neben ihrer regelmäßigen Arbeit mit der Bearbeitung von Verzögerungsbeschwerden befassen, statt dem Bürger einen finanziellen Ersatzanspruch zu bieten, dann bedeutet das eine zusätzliche Belastung der Gerichte. Das bedeutet einen erhöhten finanziellen Aufwand und eine weitere Verzögerung der Bearbeitungsdauer der Verfahren, gegen die die Bürger dann wiederum Beschwerde einlegen können. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Idee! Die Neue Richtervereinigung hat das Untätigkeitsbeschwerdengesetz deshalb auch jüngst als einen Schildbürgerstreich bezeichnet, der geeignet ist, den deutschen Justizapparat nahezu lahm zu legen. (Alfred Hartenbach [SPD]: Sie haben nicht gut zugehört! - Brigitte Zypries, Bundesministerin: Das glaube ich nicht! - Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist wie mit den Fröschen und den Sümpfen!) Ich mache Ihnen einen besseren Vorschlag: Sorgen Sie zumindest in Ihrem Zuständigkeitsbereich für eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Justiz und machen Sie im Übrigen Ihren politischen Einfluss auf Länderebene geltend! Dann wird sich das Problem der langen Verfahrensdauer von allein erledigen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]: Unsere Geduld noch viel mehr!) Wolfgang Neškovi? (DIE LINKE): Ich bin noch bei meinem letzten Satz. - Ich gebe zum Abschluss noch einen grundsätzlichen Rat: (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) Reißen Sie nicht die rechtsstaatlichen und sozialen Errungenschaften aus Jahrzehnten nieder, weil Sie meinen, sich Sparzwängen fügen zu müssen. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Wolfgang Neškovi? (DIE LINKE): Ich bin beim letzten Satz. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Das haben Sie schon einmal gesagt. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Halten Sie sich doch mal an die Regeln hier!) Wolfgang Neškovi? (DIE LINKE): Ich habe einen Punkt übersehen. - Sie werden sonst erleben müssen, dass Sie in einer Phase der möglichen wirtschaftlichen Konsolidierung plötzlich ohne einen modernen und sozialen Rechtsstaat dastehen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN)