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Es ist kein einfacher „Weg in eine inklusive Gesellschaft“.

Rede von Ilja Seifert,

Rede (zu Protokoll) des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert am 18. Oktober 2012 im Bundestag zum TOP:


Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales - zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. „Behindern ist heilbar – Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ und zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“, Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008

Am 1. Dezember 2011 hatten wir hier im Hohen Hause eine behindertenpolitische Debatte im Bundestag. Wir diskutierten u.a. die Anträge der Fraktion DIE LINKE. „Behindern ist heilbar – Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ (Drucksache 17/7872) und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ (Drucksache 17/7889). Thema war auch der für den 2. und 3. Dezember geplante Dialog der Politik mit Menschen mit Behinderungen, welcher aus sicherheits- und brandschutztechnischen Gründen abgesagt werden musste, weil sich zu viele Rollstuhlfahrer/innen unter den eingeladenen Teilnehmer/innen befanden. Hier hatte das wirkliche Leben von Menschen mit Behinderungen den Bundestag kalt erwischt.


Heute, fast ein Jahr später, entscheiden wir über die beiden Anträge der LINKEN. Und in ein paar Tagen, am 26. und 27. Oktober kommen rund 300 Menschen mit Behinderungen aus allen Bundesländern in den Bundestag, um mit uns Abgeordneten über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu diskutieren. Ich freue mich auf diese erstmalig stattfindende Veranstaltung, auch wenn sie auf Grund der baulichen Gegebenheiten mit Kompromissen und Einschränkungen beim Konzept und der Zahl der Rollstuhlfahrer/innen verbunden ist. Und ich bin sicher: auch wenn beide Anträge heute mit Ihrer Mehrheit abgelehnt werden – sie bleiben aktuell und sie werden von der Behindertenbewegung und von den LINKEN bei dieser Veranstaltung und darüber hinaus wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Was hat die Bundesregierung in den letzten dreieinhalb Jahren, seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention innerstaatliches Recht ist, für deren Umsetzung getan? Sie legte – sehr spät – einen „Nationalen Aktionsplan“ vor, der vor allem Prüfaufträge und Absichtserklärungen enthält, die Vorschläge aus der Behindertenbewegung aber weitgehend unberücksichtigt ließ.

Gibt es inzwischen eine Überprüfung aller Gesetze und Verordnungen auf Änderungsbedarf, damit sie den Maßstäben der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden? Fehlanzeige!

Und die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen bei der Erarbeitung von Konzepten und Gesetzen, die sie direkt oder indirekt betreffen? Überwiegend Fehlanzeige!

Gibt es ein Konjunkturprogramm zur systematischen und beschleunigten Beseitigung von baulichen Barrieren? Fehlanzeige!

Gibt es Maßnahmen zur Verbesserung der (finanziellen) Lebenssituation zur Sicherung umfassender Teilhabe am Leben in der Gesellschaft? Fehlanzeige! Nein, zum Teil gibt es sogar Verschlechterungen!

Gibt es einkommens- und vermögensunabhängige Sicherung personaler Assistenz? Fehlanzeige!

Und wie sieht es aus mit Maßnahmen zur Bewußtseinsbildung? Da hat sich etwas, wenn auch viel zu wenig, getan. Es gibt eine (teure) Kampagne der Bundesregierung unter der Überschrift „Behindern ist heilbar“!

Fazit: Behindertenpolitik ist weiterhin kein inklusiver Bestandteil der Politik in allen Bundesbehörden sondern eine Nische im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es wird viel geredet (das ist auch schon was wert!) aber kaum was getan.

Im unlängst veröffentlichten 4. Armuts- und Reichtumsbericht gibt es kaum Angaben über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen. Auch in der Studie der Universität Heidelberg zur Lebenssituation von contergangeschädigten Menschen spielte die finanzielle Situation keine Rolle. Daten darüber waren vom Auftraggeber politisch nicht gewollt. Gleichzeitig erklärt die Bundesregierung auf diesbezügliche Fragen der LINKEN seit 4 Jahren, dass sie diesbezüglich keine Erkenntnisse hat.

Wer aber mit Betroffenen redet, die geltende Sozialgesetzgebung kennt und auch etwas genauer in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung schaut, wird feststellen: Behinderung ist ein Armutsrisiko. Und zwar für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Behinderung führt sehr schnell zu Armut. Und wer dort erst mal angekommen ist, bleibt in der Regel auch lebenslänglich arm.

Eine wesentliche Ursache ist das Fehlen von persönlicher bedarfsgerechter einkommen- und vermögensunabhängiger Assistenz und Pflege. Deswegen kämpft die Behindertenbewegung seit vielen Jahren für ein entsprechendes Teilhabesicherungsgesetz. Deswegen brachte DIE LINKE, wie auch schon in der 14. und 16. Wahlperiode, einen Antrag für ein solches Leistungsgesetz in den Bundestag ein.
Den Beratungsverlauf und das Abstimmungsverhalten der Fraktionen zu beiden Anträgen kann die interessierte Öffentlichkeit der vorliegenden Beschlussempfehlung des (federführenden) Ausschusses für Arbeit und Soziales (Drucksache 17/10008) entnehmen.

So heißt es in diesem Bericht: „Die Fraktion der SPD forderte …das auch in der Konvention verankerte Motto ,nichts über uns ohne uns‘ müsse umgesetzt werden. Das sei in den Anträgen der Fraktion DIE LINKE. offensichtlich geschehen.“ Stimmt. Deswegen finde ich es unerklärlich, dass sich die Fraktion der SPD bei beiden Anträgen nur zu einer Stimmenthaltung durchringt.

Die Fraktion der CDU/CSU betonte, dass sie grundsätzlich „die permanente Diskussion über die Behindertenrechtskonvention begrüße.“ Sie lehne aber die Anträge ab, weil der eine überflüssig sei, denn es gäbe einen tollen Aktionsplan der Bundesregierung und eine erfolgreiche Kampagne. Und der Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz sei nicht finanzierbar.

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den christlichen Parteien: Sie forderten am 3. April 2001 (Bundestagsdrucksache 14/5804) eine „umfassende Lösung mit Verbesserungen für behinderte Menschen“. „Diese kann“, so steht es in ihrem Antrag, „nur in einem eigenständigen und einheitlichen Leistungsgesetz für Behinderte erreicht werden, das vom Bund zu finanzieren ist. Dieses Gesetz müsste vermögens- und einkommensunabhängig ausgestaltet sein und die Leistungen, die derzeit in der Eingliederungshilfe […] enthalten sind, zusammenfassen […]“. Demnach müssen Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen „vor wesentlichen Sonderbelastungen und vor einer Stigmatisierung als Sozialhilfeempfänger geschützt werden“. War das alles Lüge, weil sie gerade in der Opposition waren oder kann Ihre Forderung aus dem Jahr 2001 in Folge ihrer Regierungspolitik in den letzten 7 Jahren nicht mehr aufrecht erhalten werden?

Auch die FDP will beide Anträge ablehnen. Das überrascht mich nicht, auch wenn in dem Bericht steht: „Die FDP lobte die Anträge als Diskussionsbeitrag. Grundsätzlich stimme die Fraktion der FDP auch einzelnen Vorschlägen zu…“. Welchen, bleibt ihr Geheimnis, denn es liegt von der FDP nichts zur Abstimmung auf dem Tisch.
Bündnis90/Die Grünen will dem Antrag „Behindern ist heilbar“ zustimmen, den Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz dagegen ablehnen. Im Bericht heißt es: „Den weitergehenden Vorschlägen zu einem Teilhabesicherungsgesetz allerding nicht. Dazu habe man andere Vorstellungen.“ Das überrascht mich, schließlich hat die Fraktion der Grünen im Wahlkampf 2009 die diesbezüglichen Forderungen aus den Behindertenverbänden ausdrücklich unterstützt.

„Behindern ist heilbar“ – es wird aber noch ein langer „Heilungsprozeß“, bis Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und ohne Diskriminierungen am Leben in der Gesellschaft teilnehmen können, bis alle Barrieren beseitigt und „Inklusion“ kein Fremdwort mehr sind. Unbestritten: Es ist kein einfacher „Weg in eine inklusive Gesellschaft“. Den müssen wir gemeinsam beschreiten, parteiübergreifend, in Bund, Ländern und Kommunen, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und allen anderen Bereichen der Gesellschaft. Die Vorschläge der LINKEN für diesen Weg liegen auf dem Tisch. Ich meine, sie sind gut, können aber – durch die Diskussion in und mit der Gesellschaft – durchaus noch besser werden. Lassen Sie uns daran arbeiten, nicht stur ablehnen!