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Es gibt keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland

Rede von Jutta Krellmann,

Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich wiederhole, was meine Kollegin Sevim Dağdelen gesagt hat: Es gibt keinen Fachkräftemangel in Deutschland. Diese Aussage kommt nicht von mir – ich führe nämlich keine Untersuchungen durch –, sondern sie beruht auf einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie im Focus gelesen!)

– Wollen wir hinterher noch einmal reden? Rufen Sie jetzt nicht dazwischen, bitte.

(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren
Sie jetzt die gleiche Studie noch einmal?)

Worum geht es, wenn führende Unternehmen über unbesetzte Ingenieurstellen klagen und sogenannte Experten schon eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 50 Stunden in der Woche heraufbeschwören? Ich sage: Fachkräfte sind da; aber der Wirtschaft sind sie zu teuer. Persönlich habe ich mich die ganze Zeit über eine Diskussion über Fachkräftemangel gefreut, weil die Fachkräfte endlich einmal selbstbewusste Forderungen stellen konnten, zum Beispiel in Tarifrunden. Das geht nun nicht, weil die Wirtschaft jetzt im Grunde schaut, wie man dem Fachkräftemangel über Zuwanderung aus dem Ausland begegnen kann; sie hat die Diskussion darüber ganz einfach wieder entdeckt. Den Fachkräften aus dem Ausland kann man weniger Gehalt als den heimischen Beschäftigten zahlen, und darum drängen die Arbeitgeberverbände
auf eine schnelle Lösung, die diesen Menschen einen leichten Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht.
Das wird der Wirtschaft gerecht, aber nicht den Menschen, weder denjenigen, die hier leben, noch denjenigen, die zu uns kommen. Die Grünen fallen genau auf diesen Trick und diese
Überlegung herein. Die Debatte um Fachkräftemangel ist nicht neu, die zweifelhaften Lösungen auch nicht. Waren es vor gut zehn Jahren die IT-Spezialisten, sind es heute Ingenieure und Techniker, und das auch nur in einigen Branchen. Wir erinnern uns an Rüttgers peinliche Debatte um „Kinder statt Inder“. Die Greencard war ein Reinfall. Anstatt über gesteuerte Fachkräftezuwanderung mit Karten und Punkten zu sinnieren, müssen wir
doch erst einmal über das eigentliche Thema reden, und das ist im Grunde die verkorkste Arbeitsmarktpolitik.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung und rund 4,1 Millionen Menschen ohne Arbeit. Dazu kommen viele verdeckte Erwerbslose; sie sind nicht mitgerechnet. Jahrelang hat sich die herrschende Politik um die junge Generation nicht gekümmert. Betriebliche Ausbildungsplätze wurden abgebaut, und stattdessen wurden sinnlose Warteschleifen und Schmalspurausbildungen eingerichtet. Nicht einmal ein Viertel der Betriebe bildet aus. Die drei Viertel, die nicht ausbilden, schreien jetzt am lautesten nach Facharbeitern. Die Unterzeichnung des Ausbildungspakts ist keine
drei Monate her. Dort hätten Arbeitgeberverbände einfach die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze vereinbaren können. Das haben sie nicht getan. Es galt, lieber stillzuhalten und zu warten, ob es billige Fachkräfte aus dem Ausland gibt.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht ja nicht um billig!)
Dazu muss man ja keine eigenen Investitionen tätigen. Gerade für die 1,5 Millionen jungen Menschen, die sich qualifizieren wollen, ist das wie ein Schlag ins Gesicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Bei der Qualifizierung der Beschäftigten sieht es auch nicht besser aus. Dort haben viele Arbeitgeber in den letzten Jahren einfach geschlafen und zu wenig in die Weiterbildung investiert. Auch diese Betriebe rufen jetzt nach qualifizierten Facharbeitern. Als Gewerkschafterin sage ich den Betrieben: Übernehmen Sie endlich die Verantwortung und bilden Sie Ihre Beschäftigten weiter bzw. bilden Sie junge Menschen aus.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Solange darf keiner einwandern!)
– Mit Ihnen rede ich auch hinterher noch mal gerne. –
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist das beste Mittel gegen Fachkräftemangel. Ich kenne einen jungen Industrieelektroniker, der sich zum Techniker weiterqualifiziert hat. Aber sein Betrieb hat ihn nicht entsprechend seiner höheren Qualifikation beschäftigt. Der hat lieber Mitarbeiter von außen geholt. Dieser junge Kollege hat sich dann entschieden: Ich gehe nach Norwegen und suche mir da einen Arbeitsplatz. Er hat dort eine Perspektive gefunden.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja rechtswidrig!)
Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich sehe auch, dass das kein Einzelfall ist. Ich persönlich kenne noch mehrere Kollegen, die hochqualifiziert sind und heute überlegen,
ins Ausland zu gehen, um ihre Qualifikation, die auch eine Halbwertzeit hat, entsprechend einzusetzen. Deutschland ist mittlerweile – das ist auch schon gesagt worden – kein Einwanderungsland, sondern ein Auswanderungsland. Da bilden sich Menschen ohne
staatliche oder betriebliche Hilfe weiter, und sie werden trotzdem ignoriert. Ich kann es den jungen Leuten nicht verdenken, wenn sie in Richtung Auswanderung denken. Wenn wir Facharbeiter haben wollen, müssen wir den Facharbeitern auch eine Chance geben.
(Beifall bei der LINKEN)

Daneben gibt es noch Millionen von erwerbslosen Menschen, die auf eine Chance warten, auch ausgebildet zu werden. Gleichzeitig aber winkt die Bundesregierung ihr Sparpaket mit massiven Einsparungen bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten durch.
Die Erwerbssituation in Deutschland befindet sich in einer Schieflage. Ich gebe allen recht, die so darüber reden. Schuld daran ist eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik, die eher bereit ist, aus fähigen Beschäftigten Leiharbeitnehmer zu machen, als sie anständig zu bezahlen. Ihre
Arbeitsmarktpolitik macht Druck auf die Arbeitnehmer und versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Anstatt junge und ältere Beschäftigte einzustellen, Frauen mit Kindern zu unterstützen, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben und nicht zuletzt den hier lebenden Migranten endlich ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse anzuerkennen, werden nun wieder einmal internationale Fachkräfte gesucht.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um qualifizierte Zuwanderung
und ordentliches Gehalt!)
Hauptsache, sie sind schneller und billiger als hier zu bekommen. Die Linke spielt da nicht mit. Die Menschen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir brauchen keine Bewertung der Menschen nach Nützlichkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir fordern freie Zugänge für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und den gleichen Lohn für gleiche Arbeit – egal ob sie zu uns kommen oder schon bei uns sind. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn sowie gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Vor allem brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die den Menschen und nicht die Maximalprofite in den Mittelpunkt stellt. Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)