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Es bleibt beim Reden - Bundesregierung lässt Handeln in der Jugendpolitik nicht erkennen

Rede von Norbert Müller,

Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schwesig! Liebe Gäste auf den Besuchertribünen, die zu dieser etwas familienunfreundlichen Zeit heute Nachmittag in den Deutschen Bundestag gekommen sind!

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

- Schauen Sie einmal, wie viele Kitas in Deutschland bereits zwischen 16 und 17 Uhr schließen. Betroffen davon sind die, die kleine Kinder haben.

In der ersten Beratung zum Bundeshaushalt 2015 sprach an dieser Stelle noch meine Kollegin Diana Golze. Frau Golze ist, wie Sie wissen, inzwischen als Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie in die rot-rote Regierung Dietmar Woidkes eingetreten und wird dort mit der ihr eigenen Leidenschaft weiter gegen Armut und soziale Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen kämpfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde es bedauerlich, dass Sie, Frau Ministerin Schwesig, und die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion - bei der CDU/CSU sind jugend- und familienpolitisch ohnehin kaum Fortschrittliches und auch keine moderne Gesellschaftspolitik zu erwarten - die Kritik an den falschen Weichenstellungen des Bundeshaushaltes vollständig ignorieren, dass Sie zum Stichwort „Betreuungsgeld“, zu der Kritik daran, die Sie selbst einmal vorgetragen haben - ich erinnere an das SPD-Wahlprogramm - und zu moderner Gesellschaftspolitik, die Sie im SPD-Bundestagswahlprogramm sehr präzise skizziert haben, hier gar nichts mehr sagen; vielmehr suchen Sie sich neue Themen aus.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Ministerin Schwesig, wenn ich Ihren Haushalt und das besagte SPD-Wahlprogramm nebeneinanderlege, stellt sich mir folgende Frage: Wie ertragen Sie es eigentlich, hier eine Politik vertreten zu müssen, Stichwort „Betreuungsgeld“, die Ihren Überzeugungen doch eigentlich weitgehend widersprechen müsste, und sich sozusagen als Sahnehäubchen von Ihrem Koalitionspartner in der Öffentlichkeit demütigen zu lassen, wie wir es diese Woche erleben konnten?

Unabhängig vom Haushalt finde ich es ein Stück weit enttäuschend, wie profillos sich die SPD hier trotz hoffnungsvoller Programmatik gibt. Ich habe als Landtagsabgeordneter in einer rot-roten Koalition in Brandenburg eine andere SPD-Familien-, -Jugend- und -Frauenpolitik kennengelernt. Und ja: Eine Koalition ist immer von Kompromissen geprägt. Aber ein Kompromiss, bei dem man am Ende das Gegenteil dessen macht, was man einst versprochen hat, ist eben kein Kompromiss.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre 1 Milliarde Euro - oder besser: 900 Millionen Euro -, die Sie als Belohnungsprämie für den Verzicht auf die Inanspruchnahme eines Rechtsanspruches hier wieder in den Haushalt eingestellt haben, steht für den größten familienpolitischen Sündenfall der Sozialdemokratie in dieser Legislaturperiode. Es ist nicht einmal erkennbar, dass Sie an diesem sozial-, bildungs- und familienpolitischen Unfug namens Betreuungsgeld noch ernsthaft Kritik vorbringen, sondern Sie machen fast das Gegenteil.

Gerade weil Sie aber offenbar nicht bereit sind, die babylonische Gefangenschaft der Koalition mit der CDU/CSU hier zu verlassen, werden Sie sich auch weitere Kritik gefallen lassen müssen, und zwar zu Punkten, zu denen Sie in Ihrer Rede nichts gesagt haben, die jedoch angeblich Schwerpunkte in dieser Wahlperiode sein sollen.

In Ihrer Rede auf dem 15. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag haben Sie erklärt - ich zitiere Sie, Frau Schwesig -:

Einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit in dieser Legislaturperiode will ich deshalb den Jugendlichen widmen.

Und weiter sagten Sie:

Ich will deshalb bei der Eigenständigen Jugendpolitik in dieser Legislaturperiode vom Reden zum Handeln kommen.

Da kann man jetzt auch Beifall klatschen.

Doch leider muss der Applaus verebben, wenn man Ihre Worte, denen Sie Handlungen folgen lassen wollten, mit dem vorliegenden Haushalt abgleicht. Diesen Realitätscheck bestehen Sie mit dem vorliegenden Einzelplan 17 nicht.

Man kann durchaus erfreut feststellen, dass Sie im Kinder- und Jugendplan den Posten zur Jugendpolitik um 400 000 Euro auf nunmehr 2,5 Millionen Euro aufgestockt haben. Aber was steckt hinter den 2,5 Millionen Euro? Hieraus wurde das Zentrum für die Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik finanziert; das haben Sie gerade wieder abgewickelt. Dabei fallen mir noch einige Dinge auf:

Erstens. Sie werden eine Koordinierungsstelle mit dem hochtrabenden Namen „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ einrichten. Das haben Sie angekündigt. Was soll diese Koordinierungsstelle eigentlich tun? Sie soll die Handlungsstrategien der Eigenständigen Jugendpolitik in 16 Modellprojekten - für jedes Bundesland eines - ausprobieren, soll Bausteine einer eigenen Jugendpolitik umsetzen. Damit verlagern Sie die Verantwortung für die Eigenständige Jugendpolitik vom Bund auf die Kommunen und auf die Länder. Das ist kein Eigenständiges Handeln, sondern das ist höchstens das Kommentieren des Handelns anderer.

Zweitens. Die Eigenständige Jugendpolitik soll im Rahmen der Demografiestrategie der Bundesregierung weiterentwickelt werden. Damit sie dort nicht komplett untergeht, was zu erwarten wäre, wurde eine AG „Jugend gestaltet Zukunft“ gegründet. Bis zum Frühjahr 2017 - da findet der vierte Demografiegipfel statt - wird sich die AG mit dem Schwerpunkt „Gelingendes Aufwachsen von Jugendlichen in ländlichen Räumen“ beschäftigen. So weit, so gut. So wird die AG mit dem hochtrabenden Namen „Jugend gestaltet Zukunft“ in den nächsten zweieinhalb Jahren vier Kommunen besuchen und sich vor Ort gelungene Beispiele in der Praxis anschauen.

Frau Ministerin Schwesig, ich bitte Sie! Beides hört sich an wie die modifizierte Fortführung der Kampagne für eine kindgerechte Kommune. Sie wollten in dieser Wahlperiode bei der Eigenständigen Jugendpolitik vom Reden zum Handeln kommen. Aber wo ist hier Ihre eigenständige Handlung? Ist es nicht vielmehr so, dass Sie darauf warten, dass andere für Sie handeln?

Ich komme zu meinem letzten Beispiel. Sie haben uns auf eine Kleine Anfrage bezüglich der Situation von Straßenkindern geantwortet, dass Sie vier Projekte für Straßenkinder mit jeweils 100 000 Euro fördern werden. Ich begrüße, dass Sie die Realität zur Kenntnis nehmen, dass es in diesem Land Tausende Kinder und Jugendliche gibt, die auf der Straße leben. Das sind Kinder und Jugendliche, die auf der Straße gelandet sind, auch deshalb, weil die Gesellschaft versagt hat.

Ich muss nun feststellen, woher die 400 000 Euro kommen, die Sie einstellen wollen: von der Eigenständigen Jugendpolitik. So spielen Sie die Eigenständige Jugendpolitik gegen Straßenkinder aus. Ich erkläre Ihnen das auch: Wenn Kinder und Jugendliche zu Straßenkindern werden, dann hat dies eine Vorgeschichte; das wissen Sie. Die Vorgeschichte ist das Scheitern der Gesellschaft an ihren sozialen Problemen. Nicht nur die Familien, auch die örtlichen Strukturen - Schule, Vereinslandschaft, Kinder- und Jugendhilfe - haben an diesem Punkt bereits versagt. Kein Jugendlicher lebt gern auf der Straße. Es ist die Flucht vor einer Gesellschaft, in der es die Jugendlichen nicht mehr aushalten, wenn sie sich mit ihrem Lebensmittelpunkt auf die Straße zurückziehen.

So richtig es ist, diesen Jugendlichen Öffentlichkeit zu geben, Frau Schwesig, so falsch ist es, an der Eigenständigen Jugendpolitik zu sparen; denn eine gute Jugendpolitik geht an die Wurzel des Problems und setzt an der sozialen Infrastruktur an - das hatten Sie auch im SPD-Wahlprogramm -, die vorbeugend wirken soll, sodass es gar nicht erst zu dieser Anzahl von Straßenkindern kommt. Die Eigenständige Jugendpolitik kostet Geld, sie kostet viel Geld, Frau Schwesig, und ich kann nicht erkennen, dass Sie in diesem Haushalt hier einen Schwerpunkt gesetzt haben. Von daher können Sie unsere Zustimmung nicht erwarten.

(Beifall bei der LINKEN)