Gerade weil die Föderalismusreform möglicherweise zum Ergebnis haben wird, dass wir in Deutschland demnächst 16 verschiedene Heimgesetzgebungen haben, 16 verschiedene Auslegungen der Anweisungen für Heime, wäre es sehr sinnvoll, wenn sich der Bundestag als oberstes gesetzgebendes Organ in diesem Lande intensiv mit dieser Frage befasst. Die Linke schlägt deshalb vor - wir hatten versucht, das fraktionsübergreifend zu gestalten -, eine Enquete-Kommission einzurichten, die sich mit ethischen, rechtlichen und finanziellen Fragen des assistierten Wohnens befasst. Darunter fällt auch das Leben im Heim. Dr. Ilja Seifert in der Debatte zur Entbürokratisierung der Pflege.
"Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!In dieser Woche kam ein junger Mann, der seinen Zivildienst vor einem Monat angetreten hatte, zu mir und sagte: Eigentlich wollte ich in einem Altenheim arbeiten, ich kann das aber nicht, weil dort 60 Menschen eher verwahrt als versorgt werden; ich habe nicht die Möglichkeit, ihnen zusätzliche Angebote zu machen. - Das Personal im Pflegebereich hat weder die Zeit noch die Kraft, sich den Menschen zuzuwenden. In den Pflegeheimen herrscht ein Klima, in dem ein Leben nicht möglich ist und ein Arbeiten erst recht nicht. Der junge Mann bittet um Versetzung.
Sie fordern in Ihrem Antrag die Entbürokratisierung im Pflegebereich. Das ist zu kurz gesprungen. Auch ich will keine Bürokratie, erst recht nicht in der Pflege; das ist ganz klar. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass wir uns zunächst einmal darüber verständigen müssen, was Pflege überhaupt heißt. Der total überkommene, medizinisch orientierte Pflegebegriff, der im SGB XI und anderswo herumgeistert, muss überwunden werden. Wir müssen hin zu einem neuen Pflegebegriff, der die assistierende Unterstützung unterstreicht. Von der Vorstellung "satt, sauber, trocken" müssen wir uns verabschieden, zumal selbst dies nicht immer gewährleistet ist.
Die Linke schlägt deshalb vor - wir hatten versucht, das fraktionsübergreifend zu gestalten -, eine Enquete-Kommission einzurichten, die sich mit ethischen, rechtlichen und finanziellen Fragen des assistierten Wohnens befasst. Darunter fällt auch das Leben im Heim. Bedauerlicherweise haben mir gerade die Kollegin Evers-Meyer von der SPD, die Behindertenbeauftragte, und der Kollege Kurth von den Grünen mitgeteilt, dass sie diesen Antrag nicht unterstützen wollen, weil sie der Meinung sind, dass sich dies auch auf andere Weise regeln ließe. Doch gerade weil die Föderalismusreform möglicherweise zum Ergebnis haben wird, dass wir demnächst 16 verschiedene Heimgesetzgebungen haben, 16 verschiedene Auslegungen der Anweisungen für Heime, wäre es sehr sinnvoll, wenn sich der Bundestag als oberstes gesetzgebendes Organ in diesem Lande intensiv mit dieser Frage befasst.
Liebe Kollegen von der FDP, wir können durchaus darüber debattieren, ob schwarze Schafe an den Pranger gestellt werden sollten. Man muss sich genau überlegen, ob das sinnvoll ist. Denn wer kann wirklich beurteilen, wie gut oder schlecht Heime sind? Das können eigentlich nur die Bewohnerinnen und Bewohner, und selbst ihnen fehlt eine Vergleichsmöglichkeit - denn man wechselt nicht von einem Heim zum anderen -, um sagen zu können: "Dieses Heim ist gut" oder: "Jenes Heim ist schlecht". Und was passiert denn, wenn die Bewohner sagen, ihr Heim ist schlecht? Dann werden sie eher mehr drangsaliert, als dass es ihnen besser geht; das ist doch das Problem, vor dem wir stehen.
Letzter Punkt. Wir müssen endlich Strukturen dafür schaffen, dass Heime und andere Großeinrichtungen immer überflüssiger werden. "Ambulant vor stationär" darf nicht nur postuliert werden. Anstatt die Heimstrukturen zu stärken, muss im Haushalt endlich Geld zur Schaffung solcher ambulanter Strukturen eingestellt werden. Zudem müssen wir den in den Heimen arbeitenden Menschen eine Perspektive bieten, damit sie, wenn Heime geschlossen werden, keine Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Im Gegenteil, wir wollen ja gerade, dass sich ihnen bessere Arbeitsmöglichkeiten auftun, Arbeitsmöglichkeiten, die ihren ethischen Ansprüchen entsprechen, sodass sie sich den Menschen zuwenden, sich ihnen widmen können, sie unterstützen können in ihrer selbstständigen Lebensweise, und das nicht nur im betreuten Wohnen, nicht nur in Wohngruppen, sondern auch in der eigenen Wohnung, mitten in der Gemeinde, mitten in der Stadt, mitten im Dorf, dort, wo man wohnen möchte, und nicht irgendwo am Rande, in irgendeiner separierenden Einrichtung; das wäre der Punkt.
Um auf Ihren Antrag zurückzukommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: In der Überschrift schreiben Sie: "Entbürokratisierung". Aber wenn ich genau hinschaue, muss ich feststellen: Sie schaffen nur neue Bürokratie: (Zuruf von der FDP: Wo denn?) Sie ordnen bürokratisch zu, wer wie arbeiten kann. Anstatt dafür zu sorgen, dass die Selbstbestimmungskräfte der Betroffenen, der Bewohnerinnen und Bewohner, gestärkt werden, stärken Sie nur die Kräfte, die die Qualitätsstandards absenken können. Das will ich auf gar keinen Fall. Deswegen lasst uns euren Antrag beraten - wir werden sehen, wie wir weiterkommen - und lasst uns eine solche Enquete-Kommission einrichten, (Heinz Lanfermann [FDP]: Wenn Sie jetzt gesagt hätten, wo, dann wäre das interessant!) die in Ruhe arbeiten und mit Zwischenberichten auch Vorschläge ins Parlament einbringen kann, mit denen wir bald und schnell arbeiten können; das wäre ein guter Vorschlag, das wäre eine gute Herangehensweise. Auch ich wünsche Ihnen frohe Ostern. Denken Sie auch an die Menschen in den Einrichtungen - sie brauchen uns immer, nicht nur sonntags. (Beifall bei der LINKEN)"