Das von der Bundesregierung im Zwölften Kinder- und Jugendbericht abgelegte Bekenntnis zu einem öffentlich verantworteten System von Bildung, Betreuung und Erziehung sowie zur Verantwortung von Politik für die Schaffung guter Rahmenbedingungen für das Heranwachsen der jungen Generation ist Anlass für einen Politikwechsel, mit dem die Interessen von Kindern und Jugendlichen wirklich in den Mittelpunkt gestellt werden und all jenen eine Absage erteilt wird, die Kinder- und Jugendpolitik für Luxus halten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zum wievielten Mal stehen bzw. sitzen wir heute eigentlich im Deutschen Bundestag und beklagen gravierende Mängel im deutschen Bildungs- und Betreuungssystem? Diejenigen unter Ihnen mit mehr Sternchen hinter dem Namen im Kürschner als ich dürften sich an das eine oder andere Mal noch erinnern. Nun haben wir es mit der etwas außergewöhnlichen Situation zu tun, dass der Bericht durch die abgewählte rot-grüne Bundesregierung in Auftrag gegeben und die vorliegende Stellungnahme ebenfalls durch die Vorgängerregierung vorgelegt wurde. Ich freue mich daher sehr, dass Frau Ministerin von der Leyen zahlreiche Einschätzungen und Empfehlungen des Berichts teilt. Welches sind die wichtigsten Feststellungen und Forderungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts und welche Schlussfolgerungen sollten wir daraus ableiten? Die Berichtskommission und die Stellung nehmende Bundesregierung sind sich darüber einig, dass es gravierende Mängel im öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot gibt, und konstatieren übereinstimmend einen großen Nachholbedarf. Ich begrüße besonders das von der Bundesregierung in diesem Zusammenhang abgelegte Bekenntnis zu einem öffentlich verantworteten System von Bildung, Betreuung und Erziehung sowie zur Verantwortung von Politik für die Schaffung guter Rahmenbedingungen für das Heranwachsen der jungen Generation. Ich sehe in diesem Bekenntnis der Bundesregierung einen Anlass für einen Politikwechsel, mit dem die Interessen von Kindern und Jugendlichen wirklich in den Mittelpunkt gestellt werden und all jenen eine Absage erteilt wird, die Kinder- und Jugendpolitik für Luxus halten. Mit einem Lächeln aufgenommen habe ich das Bedauern der Bundesregierung darüber, dass sich die Berichtskommission nur unzureichend mit dem abgestimmten System in der DDR von Bildung, Betreuung und Erziehung vom frühen Kindesalter bis zur Ausbildung als Teil deutscher Entwicklung auseinander gesetzt hat. Ich zitiere aus der Stellungnahme der Bundesregierung: Der Bericht beansprucht, die bisherige Situation in Deutschland zu erfassen, und wird dem durch die im Schwerpunkt eingenommene westliche Perspektive nicht gerecht. Ich hoffe, die jetzige Bundesregierung schließt sich schon allein aufgrund Herkunft der Vorsitzenden von zwei der drei regierungsbildenden Parteien dem Standpunkt an, dass die Erfahrungen des Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungssystems der DDR zur Verbesserung der jetzigen Situation beitragen können. (Beifall bei der LINKEN) Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht steht unter dem Leitgedanken „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“. Bereits die kleine Abwandlung im Titel des Berichts es sollte ja „vor und in der Schule“ heißen zeigt, dass die Berichtskommission erkannt hat, dass sich das Leben von Kindern und Jugendlichen an unterschiedlichen Orten abspielt und auf vielfältige Weise geprägt wird. Die Verfasser des Berichts ziehen eine analytische Grenze am Ende des Besuchs der allgemeinbildenden Schule. Diese Einschränkung darf aber nicht den Blick auf eine ganzheitliche Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verstellen. (Beifall bei der LINKEN) Zu diesen Rahmenbedingungen gehören auch die immer stärker um sich greifende Prekarisierung und Verunsicherung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Diese haben ebenso Auswirkungen auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen wie die Tatsache, dass Familien nach dem althergebrachten Bild „verdienender Vater, erziehende Mutter“ längst nicht mehr die dominante Lebensweise sind, in die Kinder hineingeboren werden. Immer öfter erleben Kinder und Jugendliche Brüche und Veränderungen von familiären Situationen. Welche Folgen hat dies nun für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? Familie und Schule haben ihren monopolartigen Anspruch auf die Organisierung und Umsetzung von Bildung, Betreuung und Erziehung verloren. Kinder und Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer Zeit an anderen Bildungsorten und in anderen organisatorischen Zusammenhängen. Musik- und Kunstschulen, selbst organisierte Jugendgruppen oder einfach lose Gruppen von Gleichaltrigen spielen eine immer stärker werdende Rolle. Die Berichtskommission unterstreicht zu Recht, dass diesen Lernwelten eine größere Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf zwei Punkte aufmerksam machen, die man auch nachlesen kann. Erstens. Bereits 1973 stellte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung in ihrem Bildungsgesamtplan fest: Das Bildungswesen umfasst nach neuem Verständnis nicht nur Schule, Hochschule und berufliche Bildung, sondern auch die Elementarerziehung, eine systematisierte Weiterbildung und die außerschulische Jugendbildung. Sie setzte sich deshalb folgendes Ziel: Verbesserte Koordinierung der Arbeit öffentlicher und freier Träger und verstärkte Kooperation der außerschulischen Jugendbildung mit dem übrigen Bildungswesen. Diese Forderung findet sich nun auch im Zwölften Kinder- und Jugendbericht wieder. Hier wird großer Wert auf die Förderung der Zusammenarbeit von Schule, Familie und Jugendhilfe gelegt. Zweitens. Nun haben wir es aber gleichzeitig mit der Situation zu tun, dass wir uns morgen in diesem Saal mit der geplanten Föderalismusreform beschäftigen. Bestandteil dieses Reformvorhabens ist die teilweise Zerschlagung dieser Trias. Denn zumindest auf der Bundesebene wird der Einfluss auf Bildungsstandards und Bildungschancen aus der Hand gegeben. Nur auf die Vernunft der Kultusministerkonferenz zu setzen, wie es der Brandenburger Staatskanzleichef Clemens Appel von der SPD gestern in der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ verlautbart hat, ist mir, ehrlich gesagt, zu riskant. (Beifall bei der LINKEN) Ich fordere vor allem die SPD-Mitglieder im Bundestag und Bundesrat auf, diese „größte Kröte“ Zitat Appel nicht zu schlucken. (Beifall bei der LINKEN) Ich warne in diesem Zusammenhang auch davor, das Kinder- und Jugendrecht aus der Bundeshand zu geben. Sparzwänge und das Deckmäntelchen Bürokratieabbau könnten in vielen Bundesländern schnell zu eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Jugendämter führen. Dies darf im Interesse der Kinder und Jugendlichen nicht geschehen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD)) Nach meiner Auffassung und der meiner Fraktion muss die Bundesregierung ihrer Verantwortung für den chancengerechten Zugang zu allen Lernwelten nachkommen. Stichwort „chancengerechter Zugang“: Ein realistischer Blick offenbart, dass sich die Chancen vieler Kinder und Jugendlicher auf einen gelungenen Start in ein selbst bestimmtes Leben in den letzten Jahren massiv verschlechtert haben. Die Kinder- und Jugendarmut steigt konstant. Im Kinder- und Jugendbericht wird die Situation in angemessener Weise und mit zutreffenden Befunden geschildert. Seit den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts steigt die Armutsquote unter Kindern und Jugendlichen. Die Verschärfung der Sozialgesetze hat im Jahr 2005 zu einer erheblichen Verschärfung geführt. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband errechnete für Mitte 2005, dass sich bundesweit fast jedes siebente Kind unter 15 Jahren im Sozialgeldbezug befand. Im Osten Deutschlands ist das Armutsrisiko noch größer. In einer Schulklasse mit 28 Kindern leben durchschnittlich sieben unterhalb der Armutsgrenze. Ein ebenso hohes Armutsrisiko haben Kinder nicht deutscher Eltern oder von Alleinerziehenden. Armut umfasst aber nicht nur einen Mangel an finanziellen Ressourcen, sondern auch an sonstigen materiellen und immateriellen Gütern, Einschränkungen in sozialen und kulturellen Belangen, einen erschwerten Zugang zu allgemeiner Infrastruktur und wirkt sich nicht zuletzt auch auf den gesundheitlichen Zustand aus. Die Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme zwar auf die Gefahr von „Armuts-Bildungs-Spiralen“ hin, legt aber kein Konzept gegen diese insgesamt beunruhigende Entwicklung vor. Schon 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung (Johannes Singhammer (CDU/CSU): „Vor Christus“ heißt das!) stellte der Philosoph Konfuzius fest: Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen. Diese Weisheit sollte Grundlage für die künftige Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik der Bundesregierung sein. (Beifall bei der LINKEN) Für den Fall, dass Ihnen dieses Zitat zu alt oder zu weit hergeholt erscheint, hier eines aus der jüngsten Geschichte: Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin stand unter dem Leitgedanken „Mehr Freiheit wagen“. Lassen Sie mich dazu den polnischen Friedensnobelpreisträger Lech Walesa zitieren: Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leeren Geldbeutel hat. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deshalb finden Sie in unserem Entschließungsantrag zum Kinder- und Jugendbericht unter anderem die Forderung nach Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euro als einen ersten Schritt in Richtung einer sozialen Grundsicherung für alle Kinder. Mit einer weiteren Forderung, und zwar der nach dem elternbeitragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertageseinrichtungen für alle Kinder, schließen wir uns einer Empfehlung der Berichtskommission an. Wie im Bericht festgehalten wird, darf frühkindliche Bildung nicht nur als Vorbereitungszeit für die Schule gesehen werden. Die frühkindliche Betreuung muss darüber hinaus qualitativ verbessert werden. Die Ausbildungsstandards für Erzieherinnen und Erzieher müssen den künftigen Ansprüchen besser genügen. Ihre Ausbildung muss ein praxisorientiertes Hochschulstudium werden. (Beifall bei der LINKEN) Ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher müssen außerdem kontinuierlich weitergebildet werden. Ich betone es noch einmal: Wir fordern den elternbeitragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertageseinrichtungen für alle Kinder. Damit verknüpfen wir die Forderung nach der Ausweitung des Rechtsanspruchs auf einen Kinderbetreuungsplatz ab der Geburt. Diese Ansprüche sind als Rechte der Kinder und unabhängig vom sozialen Status der Eltern zu gestalten. Im Bericht wird dieser Rechtsanspruch für zweijährige Kinder ab 2008 und ab 2010 für alle Kinder mit der Geburt gefordert. Die Bundesregierung hält diese Forderung für verfrüht. Wie verträgt sich diese Einschätzung aber mit dem in ihrer Stellungnahme erklärten Ziel ich zitiere , „Deutschland bis zum Jahr 2010 zu einem der kinder- und familienfreundlichsten Länder Europas zu machen“? Das Tagesbetreuungsausbaugesetz, in dem bis zum Jahr 2010 230 000 neue Betreuungsplätze versprochen werden, reicht für die Umsetzung dieses Ziels nicht aus - (Beifall bei der LINKEN) schon allein deshalb nicht, weil die versprochene Entlastung der Länder und Kommunen in Höhe von jährlich 2,5 Milliarden Euro durch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2005 nicht so eingetreten ist. Also können Länder und Kommunen davon auch nicht 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige verwenden. Beispiel Land Brandenburg: Allein in diesem Bundesland stehen die Landkreise als Träger der kommunalen Kindertageseinrichtungen in diesem Jahr nach Aussage des Landkreistages mit 300 Millionen Euro in der Kreide. Das ist so viel wie noch nie. Wenn sich also die Bundesregierung 2010 mit dem Prädikat „kinder- und familienfreundliches Land“ schmücken will, muss sie nicht nur die Rechtsansprüche ausweiten und die Qualität der Betreuung verbessern, sondern auch Länder und Kommunen verlässlich in die Lage versetzen, diese Ansprüche umzusetzen. (Beifall bei der LINKEN) Werte Kolleginnen und Kollegen, die im Zwölften Kinder- und Jugendbericht benannten Probleme dürfen nicht weggeredet werden. Der Bericht ist kein Anlass für Sonntagsreden, sondern für einen politischen Kurswechsel im Sinne der Kinder und Jugendlichen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN)
Eine kinder- und jugendgerechte Bundesrepublik ist möglich!
Rede
von
Diana Golze,