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"Eine Gesellschaft, die nach dem Motto ""Rechnet sich das überhaupt?"" handelt, kann nicht kinder- und familienfreundlich sein."

Rede von Jörn Wunderlich,

Jörn Wunderlich in der Debatte zur Regierungserklärung über die Familienpolitik der großen Koaltion

"Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer die Regierungserklärung aufmerksam und den Koalitionsvertrag mit Interesse gelesen hat, der kann doch nur feststellen, dass der Eindruck erweckt werden soll, Deutschland sei kinder- und familienfreundlich. Jeder kann seine Meinung sagen und jeder kann Festlegungen treffen. Wie weit sie zutreffen, das wird sich im Ergebnis zeigen. Die Regierung wird nicht an den Worten, sondern an den Taten gemessen. Ich kann gegenwärtig nur feststellen: "... die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube ..."

Denn, eine Gesellschaft, die sich im Wesentlichen dem Diktat des Geldes und der Ökonomie unterwirft, eine Gesellschaft, die nach dem Motte: Rechnet sich das überhaupt, handelt, kann nicht kinder- und familienfreundlich sein.

Ein weiterer Grund, der mich zweifeln lässt: Bundeskanzlerin Merkel hat gestern vom Elterngeld als Einkommensersatz mit dem so genannten Vaterfaktor gesprochen. In einem Entschließungsantrag der CDU/CSU vom 19.04.2005 zur Regierungserklärung von Gerhard Schröder am 18.April 2002 "Familie ist ,wo Kinder sind- Politik für ein familien- und kinderfreundliches Deutschland" stand:

Ich zitiere: "Gerade die geplante Einführung des Elterngeldes widerspricht dem Prinzip einer bedarfsgerechten Förderung und verstößt gegen den Grundsatz der Wahlfreiheit.....Das Elterngeld verstößt aber auch gegen den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit. Das bisherige Erziehungsgeld ist eine Anerkennung für die Erziehungsleistung der Eltern. Das Elterngeld hingegen begünstigt höhere Einkommensgruppen. Dies ist sozial ungerecht und widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz." Ende des Zitats.

Da frage ich mich natürlich: mit wie vielen Richtungsänderungen ist denn noch zu rechnen? Ein weiteres Problem: Zu den notwendigen Rahmenbedingungen, die die Koalition bezüglich einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit schaffen will, gehört auch eine familienfreundliche Arbeitswelt mit flexiblen Arbeitszeiten. Das klingt zunächst gut, aber die Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt sieht doch ganz anders aus. In der Industrie, in der Wirtschaft und im Öffentlichen Dienst wird eine ganz andere Sprache gesprochen.

Der Vater pendelt über viele Kilometer zum Arbeitsplatz und ist nur am Wochenende zu Hause. Demnächst bekommt er noch nicht mal mehr die Pendlerpauschale; das ist ja machbar. Die Mutter wird von der Agentur für Arbeit für 6 Stunden in einen 80 km entfernten Ort (laut Agentur für Arbeit zumutbar) vermittelt. Oder: Bei Erkrankung der Kinder stehen im gesamten Jahr nur 4 -12 Tage - je nach dem wo man beschäftigt ist - für eine Freistellung zur Verfügung. Nun weiß jeder von Ihnen, dass die Kinder krankheitsanfälliger sind. Masern sind nicht nach vier Tagen auskuriert. Was passiert mit den kindern? Die Lösung kann doch nicht der Griff zum Jahresurlaub sein.

An dieser Stelle geht meine und die Kritik meiner Fraktion an Sie alle, ich betone nochmals: an Sie alle: Sie lassen seit Jahren soziale Ungerechtigkeiten zu. Sie lassen es zu, dass Familien übermäßig belastet und zerrissen werden, fordern stringent Mobilität ein. Jetzt meinen Sie das Ganze mit einem Unternehmensprogramm zur betrieblichen Betreuung der Kinder mit Mehrgenerationshäusern und mit Modellprojekten lösen zu können.

Das alles klingt nicht schlecht .Über Ansätze lässt sich reden. Nur, das Verwerfliche ist die Umsetzung. Da wollen Sie nämlich wieder soziale Ungerechtigkeiten zulassen, Ein nächstes Problem: Die bereits genannten Modellprojekte als Lösung aller bzw. fast aller Probleme. Mal ehrlich, wenn Sie mit offenen Augen und Ohren durch die Wahlkreise gehen, dann würden Sie wissen, dass es eine Hülle und Fülle an Projekten gibt. Aber alle haben ein gemeinsames Problem: die Finanzierung bzw. Anschlussfinanzierung. Da müssen Gelder gestrichen werden, um die Finanzlücken in den Kommunen und Kreisen zu schließen, die durch die verfehlten Hartz IV Politik entstanden sind. Das ist der falsche Weg. So kann es nicht weitergehen und so wird es auch nicht weitergehen.

Noch ein Wort zu den Mehrgenerationshäusern. Auch das klingt gut. Aber soll generationsübergreifende Alltagssolidarität unter Erwerbslosen, verarmten Rentnern und Kindern ohne Kitaplatz bestehen? Ist das die Lösung in der Familienpolitik? Initiieren Sie nicht immer wieder neue Projekte zulasten der bereits erfolgreich laufender Projekte! Was wir brauchen, ist eine soziale Grundsicherung für alle, Kontinuität bei der Ausnutzung der Ressourcen als Investition in die Familie; denn, darüber, denke ich, sind wir uns einig- Familie ist Zukunft."