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Ein verfassungsgemäßes Wahlrecht ohne Vergrößerung des Bundestages

Rede von Halina Wawzyniak,

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über drei Gesetzentwürfe zu zwei Wahlrechtsthemen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe zum Sitzzuteilungsverfahren. Hier geht es um die spannende Frage: Wie werden eigentlich aus den Prozenten Mandate, und was passiert dabei mit den Direktmandaten?

Dazu gibt es einen Gesetzentwurf der anderen Fraktionen und einen der Linken. Darüber hinaus haben wir einen Allparteienantrag zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche vorliegen. Das ist im Übrigen der Beweis: Wenn die Inhalte stimmen, kann man etwas gemeinsam machen. Zum Dank dafür haben Sie Herrn Grindel heute gar nicht hergeholt.

(Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Er kommt gleich!)

Ich wollte mich nämlich ausdrücklich bei ihm dafür bedanken, dass er den Kauder-Quatsch nicht mitmacht, dass da, wo „CDU/CSU“ draufsteht, nicht auch „Linke“ draufstehen kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt kommen wir zum Gesetzentwurf zum Sitzzuteilungsverfahren. Noch einmal zum Hintergrund: Die Koalitionsmehrheit hatte einen Gesetzentwurf beschlossen. Er ist vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden. Wir haben Ihnen das gleich gesagt. Hätten Sie auf uns gehört, müssten wir diese Debatte jetzt nicht führen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Bedingungen genannt, die für die Verfassungsmäßigkeit eines Sitzzuteilungsverfahrens vorliegen sollen: Zum einen darf der Effekt des negativen Stimmgewichts nur in vernachlässigbarem Umfang auftreten. Zum anderen dürfen Überhangmandate nur in einem Umfang auftreten, mit dem der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufgehoben wird. Noch einmal: Negatives Stimmgewicht bedeutet, mehr Stimmen führen zu weniger Sitzen und umgekehrt. Überhangmandate sind die Mandate, die entstehen, wenn man mehr Direktmandate gewinnt, als einer Partei nach Zweitstimmen zustehen.

Jetzt haben Sie alle ‑ außer uns ‑ einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorgelegt. Wenn ich diesen detailliert beschreiben müsste, bräuchte ich erstens diese wunderbare Anzeigetafel für eine Powerpoint-Präsentation, und zweitens wären dann meine elf Minuten Redezeit sehr schnell vorbei.

Die Kurzfassung lautet wie folgt: Die auf ein Bundesland anfallenden Mandate sind abhängig von der Bevölkerungszahl. Dabei fallen pro Bundesland doppelt so viele Mandate an wie Wahlkreise. Innerhalb der Bundesländer erfolgt die Verteilung an die Parteien mittels der Methode, dass in den Ländern die pro Landesliste erzielte Zahl der Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor geteilt wird. Von der Anzahl der Mandate werden dann die Direktmandate abgezogen.

Soweit in einzelnen Landeslisten mehr Direktmandate als Listenmandate vorhanden sind, wird die Zahl der Bundestagssitze erhöht. Die so erhöhte Gesamtzahl wird dann entsprechend der Zweitstimmen an die Parteien verteilt. Dazu wird die Anzahl der Zweitstimmen der Parteien durch einen Parteiendivisor geteilt. Klingt kompliziert, ist kompliziert! Man kann es sehr verkürzt sagen: Die Anzahl der Mandate wird erst auf die Bundesländer umgerechnet und dann auf die Parteien.

Nun ist es so, dass das Bundesministerium des Innern Berechnungen angestellt hat und deshalb sagt: Dieses Modell hätte seit 1994 immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der Bundestagssitze geführt. In der Begründung des Gesetzentwurfs selbst steht: "Eine Vergrößerung der Zahl der zu vergebenden Sitze kann … auch dann nötig werden, wenn keine Partei Überhangmandate erzielt hat ..."

Wahlrecht.de kommt zu dem Ergebnis, dass es faktisch immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der Bundestagssitze kommt, obwohl der Bundestag entschieden hat, ab der Bundestagswahl 2002 nicht mehr aus 656 Abgeordneten zu bestehen, sondern aus 598 Abgeordneten.

Jetzt kommen wir einmal zum regionalen Proporz. Der Bundeswahlleiter hat eine Berechnung auf Basis des Wahlergebnisses von 2009 gemacht. Jetzt wird es für die SPD in Mecklenburg-Vorpommern interessant. Bei 598 Sitzen erhielte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern drei Sitze, bei 671 Sitzen erhielte sie zwei Sitze. Ich würde mich bei meinen Genossen bedanken.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die CDU in Sachsen-Anhalt sieht es nicht viel besser aus. Bei 598 Sitzen bekäme die CDU in Sachsen-Anhalt sechs Sitze, bei 671 Sitzen bekäme sie noch fünf Sitze. Auch da würde ich mich herzlich bedanken. ‑ Fakt ist: Auch in Ihrem Gesetzentwurf wird der regionale Proporz nicht wirklich hergestellt. Man kann ein solches Gesetz machen, muss es aber nicht.

(Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tja!)

Der Hammer ist, dass in Ihrem Gesetzentwurf nicht einmal der Punkt „Alternativen“ vorkommt, so, als gäbe es überhaupt keine Alternativen. Ich sage Ihnen: Weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir das Zuteilungsmodell ab. Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, wäre eine zahlenmäßige Vergrößerung des Parlaments hinzunehmen. Die verfassungsgemäße Alternative ist der Gesetzentwurf der Linken.

Wir hatten den Vorschlag schon einmal in einem umfangreicheren Antrag eingebracht. Wir weisen in unserem Gesetzentwurf selbstverständlich darauf hin, dass es auch andere Modelle gibt. Die Linke hat hier mindestens einen Seriositätsvorsprung.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU - Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Dabei kann man nicht ernst bleiben!)

Die vorgelegte Alternative ist in jedem Fall verfassungsgemäß. Ich zitiere aus der Anhörung im Innenausschuss am 5. September 2011. Der Sachverständige Strohmeier sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt komplett die Verfassungswidrigkeit im Bundeswahlgesetz. Der Sachverständige Pukelsheim sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt das negative Stimmgewicht.Der Sachverständige Grzeszick sagte: Das absolute negative Stimmgewicht wird durch den Gesetzentwurf der Linken vermieden. Der Sachverständige Schorkopf sagte: Der Entwurf hat den Vorteil, dass er das absolute negative Stimmgewicht beseitigt.

Was schlagen wir eigentlich vor? Wir schlagen vor, zu errechnen, wie viele Mandate sich bundesweit für eine Partei ergeben. Davon werden die auf eine Partei bundesweit entfallenden Direktmandate abgezogen. Entstehen ausnahmsweise Überhangmandate, wird ausgeglichen, bis das Zweitstimmenergebnis wiederhergestellt wird. Sehr verkürzt kann man sagen: erst die Verteilung der Mandate an eine Partei, dann an die Bundesländer.

Ein ähnliches Modell ist das Modell Pukelsheim III. Beide Modelle ‑ unser Modell und Pukelsheim III ‑ hätten seit 1994 lediglich im Jahr 2009 zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages geführt. Jetzt kann man sich fragen, warum wir ein Modell vorschlagen, nach dem die Mandate zuerst an die Partei und erst dann an die Länder verteilt werden, statt wie Sie alle ein Modell, das erst die Mandate an die Bundesländer und dann an die Partei verteilt. Ganz einfach: Es heißt Bundestagswahl, weil eine Bundespartei gewählt wird. Es ist eben keine verbundene Wahl von Landesparteien zur Bildung eines Bundestages.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Einwand, der regionale Proporz würde in unserem Gesetzentwurf nicht ausreichend berücksichtigt: Er wird in der Tat nicht vollständig hergestellt, aber das ist in Ihrem Gesetzentwurf auch nicht der Fall. Ich verweise auf die Beispiele der CDU in Sachsen-Anhalt und der SPD in Mecklenburg-Vorpommern.

Unser Gesetzentwurf hat aber Vorteile. Es gibt kein negatives Stimmgewicht. Das Problem der Überhangmandate wird gelöst, und es kommt nicht zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Das sind drei Vorteile auf einmal. Das gibt es tatsächlich ‑ bei der Linken.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Kinderüberraschungspartei! ‑ Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Nun blasen Sie sich nicht so auf! Das ist ja unglaublich!)

Diese drei Vorteile überwiegen den Nachteil, dass es nicht zu einem hundertprozentigen Ausgleich des regionalen Proporzes kommt. Solange wir am Zweistimmenwahlrecht festhalten, wird es nie möglich sein, alle vier Prinzipien zu 100 Prozent zu erfüllen. Deswegen muss man eine Abwägung vornehmen. Wir sagen: Unser Gesetzentwurf hat drei Vorteile und erfüllt alle Kriterien des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb bitten wir, ihm zuzustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist bereits auf die Allparteiengespräche hingewiesen worden. SPD und Grüne haben ursprünglich das Modell Pukelsheim III präferiert. Das Modell ähnelt unserem, sieht aber zugunsten des regionalen Proporzes vor, als Mindestmandatszahl die Zahl der Direktmandate um 10 Prozent zu erhöhen. Wir waren bereit, uns auf dieses Modell einzulassen. Wir sind im Übrigen immer noch dazu bereit, uns darauf einzulassen.

(Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Oh! Was heißt denn das?)

- Das heißt, wenn Sie und die Grünen zu dem Modell zurückkehren, dann sind wir gerne bereit, das weiter mitzutragen. Aber Sie wollten sich unbedingt ganz schnell mit Union und FDP einigen. Wir stehen bereit, Pukelsheim III gemeinsam mit Ihnen zu verabschieden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich wiederhole: Weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir Ihr Modell ab. Denn es führt zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, müsste selbstverständlich die zahlenmäßige Vergrößerung des Bundestages hingenommen werden.

(Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Na klar, Herr Wiefelspütz, Sie dürfen immer.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie wollen eine Zwischenfrage zulassen. Dann halte ich die Redezeit an. ‑ Bitte schön, Herr Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Verehrte Frau Kollegin Wawzyniak! Sie haben ‑ ich hoffe, es schadet Ihnen nicht, wenn ich das jetzt sage ‑ sich sehr seriös an den Beratungen des neuen Wahlrechtes beteiligt. Es ist kurz vor Weihnachten.

(Jörg van Essen (FDP): Ja genau! Der Hinweis war richtig!)

Man kann das Wahlrecht sehr unterschiedlich gestalten. Ich halte das Modell, das Sie vorschlagen, für verfassungskonform. Halten Sie denn das, was voraussichtlich mit großer Mehrheit vom Deutschen Bundestag verabschiedet wird ‑ ich greife den Beratungen etwas voraus ‑, für verfassungsmäßig, oder ist das, was der Bundestag beschließen wird, aus Ihrer Sicht verfassungswidrig?

Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Wiefelspütz, ich kann Ihre Frage kurz beantworten: Ich werde meiner Fraktion nicht empfehlen, gegen dieses Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.

(Beifall des Abg. Dr. Stefan Ruppert (FDP) - Thomas Oppermann (SPD): Ein Kläger weniger!)

Zum dem Gesetzentwurf bezüglich der Auslandsdeutschen. Eine neue Regelung ist nötig, weil das Bundesverfassungsgericht die geltende Regelung als verfassungswidrig ansieht. Wir alle haben die Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ‑ trotz des Kauder-Unsinns, dass der Name der Linken nicht auf einer gemeinsamen Vorlage stehen darf ‑

(Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Kauder/Krings-Unsinn bitte!)

gemeinsam umgesetzt.

(Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Kauder-Doktrin wie Hallstein-Doktrin!)

Wir hätten uns sehr gewünscht, dass in diesem Zusammenhang auch das Wahlrecht für Menschen, die seit mindestens fünf Jahren hier in Deutschland leben und trotzdem nicht wählen dürfen, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen, geklärt worden wäre. Das war nicht möglich. Aber seien Sie sicher: Eine kraftvolle Linke-Fraktion wird das in den nächsten Bundestag erneut einbringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Abschluss meiner Rede möchte ich Ihnen sagen, dass wir aus meiner Sicht noch zwei Probleme zu klären haben. Das eine ist ‑ hier befinden wir uns in Gesprächen ‑ die Prozenthürde bei der Europawahl. Das andere ist das Wahlrecht für Menschen, die unter Vollbetreuung stehen. Ich weiß, dass das in allen Fraktionen umstritten ist. Wir sollten darüber seriös diskutieren. Ich freue mich auf die Anhörung. Vielleicht gibt es doch die Möglichkeit, sich wenigstens auf Pukelsheim III zu einigen. Dann muss ich nicht wiederholen: Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weil es eine verfassungsgemäße Alternative gibt, die nicht zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestags führt.

(Beifall bei der LINKEN)