Plenardebatte zu Organersatz
Wohl Jede und Jeder hier kennt das Märchen vom „Gevatter Tod“. Er erweist sich als der einzig Ehrliche unter allen, die für den armen Vater als Taufpate seines soundsovielten Kindes infrage kommen. Dafür gestattet der Tod ihm, als Heiler zu wirken und so seine Familie zu ernähren. Beide wenden einen Trick an. Der Gevatter zeigt sich nur dem heilenden Vater am jeweiligen Krankenbett. Und nur, wenn er am Kopfende steht und seine Sense schärft, wird die oder der Kranke sterben. Mit allerlei Hokuspokus kann der Vater also in vielen Fällen als Heilsbringer auftreten. Aber er vergißt seine Herkunft nicht. Und er wird auch nicht hartherzig. Also versucht er in einem aussichtslosen Fall, selbst den Tod zu überlisten, indem er einfach das Bett umdreht. Plötzlich steht der Gevatter doch am Fußende des Kranken. So geschehen Wunder. Im Märchen.
Erklärtes Ziel der heutigen Debatte ist die Erhöhung der Organ-Spendenbereitschaft. Ich halte das für ein falsches Ziel. Bitte, mißverstehen Sie mich nicht: Auch ich möchte Menschen helfen. Und zwar so erfolgreich wie möglich. Diese Absicht unterstelle ich uns allen. Aber es nützt nichts, das Bett einfach umzudrehen. Ich halte den Weg über Organersatz für eine Sackgasse. Er ist ethisch bedenklich, wenig nachhaltig und weckt unerfüllbare Hoffnungen.
Ja, auch ich kenne bzw. kannte Menschen unterschiedlichen Alters, die zweimal im Jahr „Geburtstag“ feiern bzw. feierten. Sie sind bzw. waren genausooft glücklich wie andere Menschen auch. Sie genießen bzw. genossen jeden Tag ihres Lebens. So, wie wir alle es tun sollten. Warum also bin ich dagegen, Ersatzorgane „spenden“ zu lassen?
Leider beleuchten die Befürworterinnen und Befürworter des Organersatzes (fast) immer nur die Empfänger-Seite. Sie stellen das Leid derjenigen dar, die dringend auf ein gesundes Organ warten. Und sie zeigen die glücklichen Gesichter nach erfolgreicher Implantation. Schon die erheblichen (Neben)Wirkungen der sehr starken Medikamente, die sie regelmäßig einnehmen müssen, verschweigt man gern. Immerhin werden gelegentlich Fragen nach der Herkunft ihres Ersatzorgans und dem „Schicksal“ der „Spenderin“ bzw. des „Spenders“ aufgeworfen. Allerdings lassen sie sich – wegen des anonymen Verfahrens – praktisch nie beantworten.
Viel seltener fällt das Schlaglicht auf die „Spender“-Seite. Und ebenso selten auf das Verfahren, mit dem die Organe „gewonnen“ werden. Warum eigentlich? Und noch etwas fällt mir auf: Der dieser Debatte zugrundeliegende Antrag legt großen Wert darauf, „Organe und Gewebe“ gewinnen zu wollen. Ich weiß kaum, was damit gemeint ist. Noch weniger, wem welche Gewebeart bzw. –teile mit welchem therapeutischen Effekt implantiert wurden. Treffen möglicherweise Gerüchte zu, daß sie Firmen und Instituten zu Forschungszwecken „zur Verfügung gestellt“ werden? Womöglich als „Rohstoff“ zur Produktion von Medikamenten? Gar von Kosmetika? In mir herrscht diesbezüglich große Unsicherheit. Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die diesem Antrag nachher vermutlich zustimmen werden, hier wirklich Bescheid?
Ich weiß nur, daß zur Organentnahme – euphemistisch „Spende“ genannt – „warme Leichen“ gebraucht werden. Dafür kreierten findige Medizinjuristen eigens den „Hirntod“. Alles, was ich darüber weiß, läßt mich jedoch schaudern. Hirntod ist mir nicht tot genug. Wie anders soll ich es bewerten, daß „hirntote“ Frauen noch gesunde Babys zur Welt bringen können? Jüngere Forschungen belegen sogar, daß mit dem sogenannten „Hirntod“ nicht einmal der unwiderrufliche Sterbeprozeß begonnen hat. Auf der anderen Seite sollen „hirntote Patienten“ (schon der Begriff ist absurd) nicht mit schmerzlindernden Medikamenten versorgt werden, wenn sie auf den „günstigsten Zeitpunkt“ für die Entnahme „warten“ müssen. Das verdürbe nämlich die Qualität der Organe. All dies läßt mir die Organ-Entnahme ethisch äußerst bedenklich erscheinen. Können wir das wirklich wollen? Wollen Sie, können wir das wirklich noch weiter stimulieren?
Einen weiteren Ablehnungsgrund sehe ich in der nicht vorhandenen Nachhaltigkeit des gesamten Organersatz-Prozesses. Die Erfahrung zeigt, daß die „Nachfrage“ wesentlich stärker ansteigt als das „Angebot“. Die Autoren des Antrags ziehen daraus die Schlußfolgerung, das Angebot zu erhöhen. Ich erlaube mir die Frage: Wie kommt es, daß wir hier solche Markt-Begriffe verwenden, wenn doch – angeblich – weder die „Spender“ bezahlt werden noch die „Empfänger“ bezahlen dürfen? Es ist ein offenes Geheimnis, daß es diesen „Markt“ solange gar nicht gab, wie die mit dem Organersatz verbundene Verheißung „neuen Lebens“ nicht in reale Greifbarkeit gerückt zu sein schien. Und es ist ein weiteres offenes Geheimnis, daß – selbst, wenn nicht gegen Gesetze verstoßen wird – zwischen der „Entnahme“ und der „Einpflanzung“ sehr viel Geld im Spiel ist. Da sind die Gehälter der Ex- und Imlantations-Teams, da sind Konservierungs- und Transportkosten, da sind allgemeine Klinik- und sonstige Aufwendungen.
Auch das Finden der/des geeignetsten Empfängerin/Empfängers ist mit erheblichen Labor-, Computer- und sonstigen Testkosten verbunden. Niemand tue also so, als sei Organersatz eine rein caritative Veranstaltung. An jeder der o.g. Stationen wird auch verdient. Logischerweise sind die dort agierenden Personen und Institutionen nicht frei von sehr handfesten ökonomischen Interessen. Das macht ihre Werbung um mehr Organe nicht gerade vertrauenswürdiger. Erst recht nicht, wenn inzwischen internationale Studien eindeutig belegen, daß Organhandel – insbesondere zulasten ärmerer Bevölkerungsschichten in Asien und Afrika – inzwischen gang und gäbe ist. Zudem belegen diese Studien, daß den Organverkäufern – meist sind es ja Männer – nicht wirklich geholfen wird. Spätestens nach einem Jahr ist ihre und die Not ihrer Familien wieder genausogroß, nicht selten durch die gesundheitsschädigenden Nachwirkungen sogar größer als vorher. Es entstand also ein „Markt“, der ausschließlich zulasten ärmerer Bevölkerungskreise wirkt und auf dem der „Bedarf“ immer weiter „ansteigt“, was die Preise in immer utopischere Regionen treibt. Soziale und medizinische Nachhaltigkeit sieht gänzlich anders aus.
Wenn nicht so große Ressourcen – medizinischer, wissenschaftlicher, logistischer, apparatechnischer und nicht zuletzt werbetechnischer Natur – in die weitere Perfektionierung des Organersatzes sondern in ethisch weniger bis gar nicht bedenkliche Bereiche gelenkt würden, kämen wir, der Gesetzgeber, unseren Pflichten m.E. weit näher.
Schließlich aber – und das ist fast mein wichtigstes Argument – weckt die bloße Möglichkeit des Organersatzes falsche, unerfüllbare Hoffnungen: Nämlich die, einem ewig jungen, ewig gesunden, ja, einem ewigen Leben nahe kommen zu können. Ich weiß, daß die meisten Befürworterinnen und Befürworter dieser Methode das weit von sich weisen: Niemals würden sie soetwas sagen! Nein. Aber Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wissen so gut wie ich, daß jede Aussage auch einen Sub-Text hat. Hier wird nun einmal die Illusion genährt, man könne sich „reparieren“ lassen. Das wiederum widerspricht meinem Menschenbild diametral.
Wir sind nun einmal sterblich. Das ist eine der wenigen Gewißheiten in unserm Leben. Und wir werden krank. Manchmal nur kurzfristig, gelegentlich für einen längeren Zeitraum. Einige von uns gestalten ihr Leben mit Merkmalen, die andere als „krank“, „unnormal“ oder eben „behindert“ betrachten. Aber Jeder und Jedem von uns wohnt die gleiche Würde inne. Unabhängig davon, wie nahe unser Lebenslauf einem „Idealbild“ kommen oder wie weit er auch davon entfernt sein mag. Wer das Bild des Menschen lobt, lobt die Unvollkommenheit. Gleichgültig, ob dieses Lob religiös von einem allmächtigen Schöpfer hergeleitet wird oder nicht.
Was also sage ich denen, die – von der Möglichkeit des Organersatzes wissend – auf ein lebensrettendes Ersatzorgan hoffen? Wie kann ich ihnen erhobenen Hauptes unter die Augen treten, wenn ich ihnen doch sagen muß: „Ja, Deine Stunde ist gekommen. Eines Deiner lebenswichtigen Organe versagt. Es ist nicht ersetzbar, ohne einem anderen Menschen das Leben zu verkürzen.“ Das ist sehr schwer. Aber menschliche Organe sind nun einmal nicht wie Hüftgelenke künstlich herstellbar. Für jeden, also auch für mich. Und doch bin ich bereit, so zu handeln. Denn gleichzeitig können – und müssen! – wir sagen: Du mußt Dich nicht quälen. Wir entwickeln die Dialyse weiter, sodaß auch mit ihr gutes Leben gestaltet werden kann. Wir werden bequemere Atemgeräte bauen, mit denen Ihr Eure Teilhabe organisieren könnt. Und wir sorgen für gut ausgestattete Hospize, wenn Ihr sie braucht. Selbstverständlich steht Euch jede schmerzlindernde Palliativmedizin zur Verfügung, zu Hause oder im Hospiz.
Ich will also nicht kaltherzig das Bett, an dessen Kopfende Gevatter Tod seine Sense wetzt, stehen lassen, sondern dafür sorgen, daß der Tod und das Sterben nicht länger aus unserm Alltagsleben verdrängt werden. Meine Erfahrung besagt, daß die wenigsten Menschen – und je älter, desto weniger – sich wirklich vor dem Tod fürchten. Aber sehr Viele haben Angst vor dem Sterben. Das soll schmerzfrei und schnell – möglichst “unbemerkt“ – geschehen. Ein sehr verständlicher Wunsch.
Den Tod – und sei es über das Bild des gütigen „Gevatters“ – in unser Alltagsleben zu holen, heißt, über ihn zu reden. Am Frühstückstisch. Im Rahmen der Familie. Nicht täglich, aber immer mal wieder. So können wir über unsere Unvollkommenheit nachdenken, ohne sie zu kritisieren. So können wir uns beizeiten darüber klar werden, wie mit unserm Leichnam umgegangen werden soll. So können wir einander auch Trost zusprechen, wo dieser gebraucht wird.
Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Antrags verweisen ganz am Anfang ihres Textes darauf, daß es darauf ankomme, den Bedarf an Ersatzorganen möglichst gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ja! Diesen Punkt unterstütze ich aus vollem Herzen: Laßt uns ein wirksames Präventionsgesetz verabschieden. Das ist die ureigene Aufgabe des Gesetzgebers, also die unsere. Es muß neben medizinischen zahlreiche weitere Bereiche umfassen: vom sozialen Umfeld bis zu Investitionen in barrierefreie Umweltgestaltung, von der Allgemeinbildung bis zur fähigkeitsunterstützenden Assistenz. Laßt uns diesen Weg gehen! Er führt nicht nur aus der Sackgasse heraus, sondern weit in die Zukunft.
Und: Laßt uns – parallel dazu – den Tod zum Gevatter machen! Ohne Tricks.
(Die Rede wurde zu Protokoll gegeben.)