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Digitalisierung des kulturellen Erbes

Rede von Lukrezia Jochimsen,

„…man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet.“ Mit diesem spannungsreichen Satz beschrieb Goethe im Jahre 1801 seine Empfindungen beim Besuch der Göttinger Bibliothek. Etwa 100.000 Bände umfasste die für damalige Verhältnisse große Sammlung, die gar eine Kirchenetage mit in Beschlag nahm. Goethe wusste, welches gesellschaftliche Potenzial, welchen Schatz, der unablässig gesellschaftlichen Nutzen produziert, das gesammelte Wissen der Zeit darstellte. Er ahnte jedoch noch nichts von den Milliarden Druckwerken, geschweige denn Filmen, Tondokumenten, Fotos und Kunstwerken, die heute auf Besucherinnen und Besuchern von Bibliotheken, Museen und Archiven warten. Die Moderne mit ihrer explodierenden Produktion von Wissen und Kulturgütern begann gerade, der industrielle Buchdruck hatte auch die Kommunikationsströme der damaligen Gesellschaft revolutioniert. Die von Goethe bestaunte Göttinger Bibliothek hält heute, 210 Jahre nach seinem Besuch den 40-fachen Bestand, etwa 4 Millionen Bücher vor, dazu kommen Zeitschriften, Nachlässe, Archive und Mikrofilme.
Und ein Blick auf die Internetseite dieser Bibliothek zeigt: wir befinden uns mitten in der nächsten technische Revolution der Wissens- und Kulturgesellschaften. Die „Digitale Bibliothek“ kann man dort anklicken und einige Bücher, aber vor allem Dissertationen und weitere Onlinepublikationen von zu Hause ansehen, kostenlos und äußerst benutzerfreundlich. Man kann sie Freunden weiterempfehlen, durchsuchen, verknüpfen und ja – auch ausdrucken. Jeder kommt an dieses Wissen heran, es kostet nichts und das Prädikat „leider ausgeliehen“ entfällt.
Bibliotheken sind keine Dinosaurier des letzten Jahrtausends, sondern der Vorreiter einer neuen Allmendekultur. „Die Demokratisierung des Wissens“ nennt der Vorsitzende der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Prof. Hermann Parzinger, den Digitalisierungsprozess. Er kann Schranken abbauen - soziale, geographische und kulturelle.
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes hat begonnen und vor allem durch die Initiative des Konzerns Google einen riesigen Schub erfahren. 15 Millionen Bände hat Google gescannt, unter anderem in Kooperation mit der Münchner Staatsbibliothek und ganz aktuell der British Library. Doch dieser kapitalstarke Vorstoß brachte auch Probleme mit sich: das Urheberrecht ist bisher nicht auf die Massendigitalisierung eingestellt. Ebenso bleibt unklar, welche Konsequenzen die Verfügung eines einzigen Konzerns über die Bestände unserer Wissens- und Kultureinrichtungen hat. Die Frage ist etwa, was im Falle einer Aufgabe des Projektes durch Google mit den Datenbeständen geschieht, oder welche Partner die Rohdaten nach welcher Frist unter welchen Bedingungen selbst benutzen dürfen.
Trotz bisher guter Erfahrungen etwa der Münchner Staatsbibliothek mit Google als Kooperationspartner finden wir es daher sinnvoll, dass das öffentliche Bibliothekswesen in Europa eine gemeinnützige Alternative anstrebt, die unter dem Namen „Europeana“ die diversen Bestände bündeln soll. Der deutsche Ableger, die Deutsche Digitale Bibliothek DDB, wurde 2008 ins Leben gerufen und soll noch in diesem Jahr online gehen. Doch auch die DDB wird nur das Dach sein, während das Gebäude darunter bisher bruchstückhaft bleibt. Die Bundesregierung hat 8 Millionen Euro für den Aufbau der zentralen Infrastruktur bereit gestellt, das eigentliche Problem, nämlich den teuren Prozess des Scannens und Aufbereitens jedoch weitgehend den Bibliotheken und Archiven bzw. deren Trägern überlassen. Jeder in diesem Lande weiß jedoch, wie es um die finanzielle Situation der Länder und Kommunen bestellt ist - nicht zuletzt wegen der Steuerpolitik der vergangenen Jahre. Sie werden die Herkulesaufgabe nicht stemmen können, im Gegenteil: die knappen Mittel zwingen Kommunen immer noch zu Bibliotheksschließungen, selbst neu erbaute Unibibliotheken haben oft keine Mittel für die notwendigen Ankäufe.
Angesichts der nationalen und globalen Bedeutung, die die Digitalisierung für Bildung und Wissenschaft hat, muss der Bund hier handeln!. Die Bibliothekenverbände haben auf dem Bibliothekarstag vor zwei Wochen eine solche konzertierte Initiative des Bundes gefordert. Bisher fördert der Bund lediglich über die DFG und auch nur im Bereich besonders alter Bestände zu Forschungszwecken. In Frankreich wurden hingegen 750 Millionen Euro für die Digitalisierung in Aussicht gestellt, Teile davon werden bereits ausgezahlt – hieran sollten wir uns orientieren! Der Bund muss, so fordert es unser Antrag, konkrete Summen in Aussicht stellen, damit wir bei der Europeana und der DDB endlich sichtbare Fortschritte machen. 30 Millionen Euro jährlich haben wir immer gefordert, damit könnte der Bund jährlich etwa 500.000 Werke scannen und die entsprechenden Serverkapazitäten vor Ort aufbauen und pflegen.
Gehandelt werden muss auch im Bereich des Urheberrechtes: um die Digitalen Bibliothek umsetzen zu können, brauchen wir eine Veränderung des Urheberrechts, das die Bibliotheken von den Problemen der Haftung befreit. Dafür haben wir in einem Gesetzentwurf einen Vorschlag für eine Schrankenregelung gemacht, die kürzlich von der Europäischen Kommission in einem Richtlinienvorschlag im Grundsatz bestätigt wurde. Bibliotheken müssen verwaiste und vergriffene Werke online stellen dürfen, ohne eine detektivische und damit aufwändige Suche nach möglichen Rechteinhabern vornehmen zu müssen und ohne die Gefahr komplexer Schadensersatzklagen zu befürchten. Nach der Zugänglichmachung auftauchende Urheber sollen, wenn sie ihre berechtigten Ansprüche angemeldet und nachgewiesen haben, unbürokratisch und angemessen entschädigt werden. Eine präventive Zahlung fiktiv festgelegter Entschädigungsbeträge von bis zu acht Euro pro Buch an die Verwertungsgesellschaften, wie sie von den Verbänden vorgeschlagen und von der SPD im Bundestag beantragt wurde, halten wir jedoch für nicht zielführend.
Und nicht zuletzt: die Digitalisierungsoffensive sollte auf der Grundlage eines präzisen und für die Beteiligten verbindlichen Handlungsplanes umgesetzt werden. Es geht um Meilensteine, um Prioritäten, um die Formate für die Metadaten und um die Nutzung von Synergien. Aus den Bibliotheken wird immer wieder Kritik an den lähmenden Prozessen in der Kultusministerkonferenz laut. Hier sollten sich alle Beteiligten auf Einladung des Bundes an einen Tisch setzen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Ihr Antrag ist eine schöne Beschreibung dessen, was ohnehin geschieht. Eine politische Willensbekundung fehlt. Daher werden wir ihn ablehnen. Mit vielen Forderungen der SPD-Fraktion gehen wir konform, allerdings soll auch hier vieles geprüft und erst mal beraten werden – etwa die Finanzen. Wir finden: es kann jetzt mal losgehen.
Die Informationsgesellschaft findet zunehmend in der digitalen Welt statt. Wenn diese Welt nicht geschichtsvergessen sein soll, müssen wir der jungen Generation das Wissen und die Kultur eröffnen, die unsere Gesellschaft bis vor kurzem ausschließlich auf Papier und Zelluloid festgehalten hat. Der Bundestag und diese Regierung können und müssen ihren Teil dazu beitragen, daher bitte ich um Zustimmung für unseren Antrag.