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Diffuses Empfinden als Grundlage für tiefe Einschnitte - Kürzung des ALG II für junge Erwachsene

Rede von Katja Kipping,

Die Argumente der Koalitionsparteien für die Fortsetzung ihres Kürzungskurses überzeugen nicht. Kürzungen, die heute Erwachsene unter 25 Jahren treffen, können schon morgen für die unter 35-Jährigen oder für die über 55-Jährigen diskutiert werden. Junge Menschen dürfen nicht zum Experimentierfeld für weiteren sozialen Abbau werden. Katja Kipping in der Aktuellen Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE. zu den geplanten Kürzungen von Hartz IV bei jungen Erwachsenen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geplanten Verschärfungen von Hartz IV sind ein Angriff auf die Eigenständigkeit junger Menschen und auf Bürgerrechte. (Beifall bei der LINKEN) Dabei sind Sie es doch immer gewesen, meine Damen und Herren von SPD und CDU, die nach mehr Selbstständigkeit, nach mehr Flexibilität bei jungen Menschen rufen. (Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Aber nicht staatlich gefördert!) Dann degradieren Sie Volljährige unter 25 Jahre zu Minderjährigen, dann verdonnern Sie junge Erwachsene zum Sitzenbleiben im „Hotel Mama“ und kürzen gleich noch die Regelleistungen auf 276 Euro. Das ist nun wirklich die falsche Richtung. (Beifall bei der LINKEN) Ich muss mich schon wundern, wie schnell Sie aus dem Häuschen sind, wenn jemand Ihren Ansatz des Sozialabbaus grundsätzlich nicht teilt. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. (Beifall bei der LINKEN Ute Kumpf (SPD): Ein bisschen Distanz, Frau Kollegin Kipping, dann ist es okay!) Es kann ja sein, dass Sie in den letzten Jahren etwas verwöhnt wurden. Man war halt mehr unter sich. Von der Opposition gab es eher Kritik im Detail. Sie werden sich jetzt aber daran gewöhnen müssen, dass es nicht mehr nur zwei Frauen von der PDS gibt, die Ihren Grundkonsens durchbrechen, sondern dass im Bundestag jetzt wieder eine gesamte Fraktion sitzt, die der Meinung ist, dass wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht auf dem Rücken der Schwächsten austragen dürfen. (Beifall bei der LINKEN Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Wir erschrecken schon! Wir zittern schon vor Angst!) Herr Brauksiepe, anstatt über Leistungskürzungen zu reden, sollten wir mal darüber reden, was man beim Leben jenseits von Armut eigentlich braucht. Wenn man im 2. Armuts- und Reichtumsbericht nachschlägt, dann kann man lesen: In Deutschland beträgt die so errechnete Armutsrisikogrenze 938 Euro... 938 Euro, meine Damen und Herren von der SPD - das ist die Zahl Ihrer Regierung! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Folgt man dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, so stellt man fest, dass der Regelsatz mindestens 420 Euro betragen sollte. Die Angleichung der Regelsätze Ost und West ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist wahrlich schon ein Armutszeugnis für die Sozialdemokratie, dass es erst vehementer Montagsdemonstrationen und der Linkspartei bedurfte, damit Sie überhaupt auf diese Idee kommen. (Beifall bei der LINKEN Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Ihr wisst, wie die Wirkung von Montagsdemonstrationen ist! Katja Mast (SPD): Das waren die Ombudsleute! Angelika Krüger-Leißner (SPD): Das glauben Sie doch selber nicht! - Andrea Nahles (SPD): Ist das jetzt dreist oder ist das dumm?) Indem Sie die Angleichung Ost an West mit Kürzungen bei den Rentenbeiträgen und bei den EU-Ausländern sowie mit einem faktischen Auszugsverbot für junge Erwachsene verbinden, beweisen Sie eigentlich nur eines: Sie verfolgen nach wie vor die Politik des Gegeneinander-Ausspielens der gesellschaftlichen Schichten, die sowieso am wenigsten haben. Daran werden wir als Linke uns nicht beteiligen. Da brauchen Sie sich gar keine falschen Hoffnungen zu machen. (Beifall bei der LINKEN Zurufe von der SPD) 14 Monate lang prellen Sie die ostdeutschen Erwerbslosen nun schon pro Monat um 14 Euro. 14 Euro sind für einen ALG-II-Empfänger wahrlich kein Klacks. Den offiziellen Berechnungen zufolge hat ein Erwerbsloser seine gesamten Gesundheitskosten und seine gesamten Kosten für die Körperpflege pro Monat von 13 Euro und 19 Cent zu finanzieren. Seien wir doch einmal ehrlich: Wie weit würden wir mit knapp 14 Euro kommen, um damit die Kosten für Kosmetik und Gesundheit zu decken? Da die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland unrechtmäßig war, fordern wir Sie auf, diesen Betrag rückwirkend nachzuzahlen. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. (Beifall bei der LINKEN) Nun wenden Sie ein, das sei ein zu großer bürokratischer Aufwand. Gut, wir müssen keine unnötige Arbeit verursachen. Lassen Sie uns dann gemeinsam nach einer unbürokratischen Lösung, wie beispielsweise eine einmalige Pauschale, suchen. (Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein Hartz-IV-Begrüßungsgeld, oder was?) Apropos bürokratischer Aufwand. Wir müssen nicht so tun, als ob die von Ihnen geplanten Verschärfungen bei den unter 25-Jährigen völlig unbürokratisch sei. (Angelika Krüger-Leißner (SPD): Das haben wir auch nie gesagt!) Sie alle kennen die Stellungnahme der Bundesagentur, in der ausgeführt wird, dass das Softwaresystem die Aufnahme der Kategorie „Volljährige Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ in eine bestehende Bedarfsgemeinschaft nicht zulässt. Man könnte fast meinen, das Softwareprogramm verfüge über ein rechtsstaatliches Verständnis, von dem sich hier so mancher eine Scheibe abschneiden könnte. (Beifall bei der LINKEN) In den Debatten der letzten Tage wurden von den Befürwortern der Kürzung vor allen Dingen vier Argumente genannt, die ich gemeinsam mit Ihnen gerne näher beleuchten möchte. Erstens. Die Herausbildung falscher Verhaltensmuster war ein Argument. Die Metapher von der Zellteilung machte die Runde. Aber wenn man genauer nachfragt, wo das belastbare Zahlenmaterial sei, dann wurde es verdammt dünn. Um einmal Herrn Senius von der Bundesagentur übrigens der Sachverständige, den die großen Koalition benannt hat zu zitieren: Man habe keine gesicherten Angaben. (Dirk Niebel (FDP): Dass die Bundesagentur keine gesicherten Angaben hat, wundert uns nicht!) Der Vertreter der Wohlfahrtspflege wurde noch deutlicher. Ich zitiere: Nach unserer Interpretation wir sind sehr tief in die Statistik eingestiegen gibt es keinerlei Anzeichen, nach denen man auf ein so genanntes Phänomen der Zellteilung schließen kann. Sie haben keine belastbare Grundlage für Ihre Behauptungen. Aber Sie nehmen Ihr diffuses Empfinden als Grundlage für tiefe Einschnitte. (Widerspruch bei der SPD) Eine solche Politik aus dem Bauch heraus wird in Zukunft zu weit mehr als Bauchschmerzen führen. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Menschen unter 25 Jahre so Ihre Argumentation sollen sowieso in einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz vermittelt werden. Dazu kann ich nur sagen: Schön wäre es! Ihr Anspruch nützt jedoch dem Jugendlichen, der bereits seine 50. Bewerbung vergeblich geschrieben hat, leider sehr wenig. Drittens. Es handele sich hier so führen Sie an um eine steuerfinanzierte Leistung, für die die Menschen aufkommen müssten, welche jeden Tag bei Wind und Wetter zur Arbeit gehen. (Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Genau so ist es!) Es ist tatsächlich ein Problem, dass das Steueraufkommen immer mehr von den Menschen getragen wird, die eine Arbeit haben. (Beifall bei der LINKEN) Hier müssen wir tatsächlich etwas verändern. Also wagen wir uns endlich daran, Gewinne und Vermögen besser zu besteuern, um die Beschäftigten etwas zu entlasten. Viertens. Sie sagen, die Familie sei eine Verantwortungsgemeinschaft. Als emanzipatorische Linke habe ich ein anderes Familienverständnis. Das mag Ihnen altmodisch vorkommen, aber ich bin nach wie vor der Meinung: Nicht finanzielle Abhängigkeit, sondern gegenseitige Achtung und gegenseitiger Respekt sollten die Grundlagen des Zusammenlebens bilden. (Beifall bei der LINKEN) Mit Ihrem Familienverständnis, meine Damen und Herren von SPD und CDU/CSU, beweisen Sie allerdings, wie Recht Karl Marx hatte, als er im „Kommunistischen Manifest“ schrieb: Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier entrissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt. (Beifall bei der LINKEN Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Sehr strebsam!) Herr Brauksiepe, Sie werden sich wieder daran gewöhnen müssen, dass auch hier im Bundestag der in wissenschaftlichen Schriften am meisten zitierte Autor wieder eine Rolle spielt. (Lachen bei der CDU/CSU) Die Argumente, die SPD und CDU/CSU für die Fortsetzung ihres Kürzungskurses vorbringen, überzeugen einfach nicht. Wenn Frau Connemann argumentiert, der staatlich finanzierte Auszug sei kein Bürger- und Menschenrecht, dann lässt das aufhorchen. Wollen Sie hier etwa einen Testballon für weitere Kürzungen steigen lassen? Ihre Logik, Frau Connemann, zu Ende gedacht, bedeutet, man könne die Grenze genauso gut bei 35, 55 oder am besten bei 67 Jahren ziehen, um danach nahtlos in Rente zu gehen. (Beifall bei der LINKEN Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das sind Karrieren, wie ihr sie euch vorstellt!) Die Kürzungen, die heute Erwachsene unter 25 Jahren treffen, können von ihnen schon morgen für die unter 35-Jährigen oder für die über 55-Jährigen diskutiert werden. Wir Linken meinen jedoch: Junge Menschen dürfen nicht zum Experimentierfeld für weitere Leistungskürzungen werden. (Beifall bei der LINKEN) Zusammenfassend ist zu sagen: Hartz IV junior ist kein Deut besser als Hartz IV senior. Es lohnt sich also, hier in diesem Haus über Alternativen zu reden. Erstens sollten wir endlich das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft abschaffen (Dirk Niebel (FDP): Freies Geld für alle!) und schrittweise das Individualprinzip einführen. Es geht schließlich um soziale Rechte jedes Einzelnen. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens sollten wir das Arbeitslosengeld II durch eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung ersetzen, die ein Leben jenseits der Armut und unabhängig vom Einkommen der Verwandtschaft ermöglicht. Es ist höchste Zeit dafür. (Beifall bei der LINKEN) Drittens sollten wir um die Finanzierung dieser Maßnahmen sicherzustellen endlich einen Kurswechsel in der Steuerpolitik vornehmen und uns daran wagen, Vermögen und Gewinne von Unternehmen ordentlich zu besteuern. (Dirk Niebel (FDP): Warum zahlen wir überhaupt noch Löhne? Alles enteignen und gleiches Taschengeld für alle!) Ihre bisherige Steuerpolitik hat die Löcher in den Haushalten nur weiter vergrößert. (Beifall bei der LINKEN) Ich denke, wir können es uns nicht mehr leisten, auf diese Steuereinnahmen zu verzichten. Es kann nicht sein, dass die Folgen Ihrer verfehlten Steuerpolitik, die Sie zu verantworten haben, auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Es ist höchste Zeit für einen politischen Kurswechsel in diesem Land. Besten Dank. (Lebhafter Beifall bei der LINKEN)