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Die Umverteilung von unten nach oben bremst das Wachstum

Rede von Oskar Lafontaine,

Rede von Oskar Lafontaine zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung 2006.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin heute in der außergewöhnlichen Situation, meinen Beitrag zum Jahreswirtschaftsbericht mit einem ausdrücklichen Lob der Bundesregierung beginnen zu können. Dieses Lob spreche ich deshalb aus, weil selten eine Regierung in so eindrucksvoller Klarheit die Früchte ihrer Arbeit im Jahreswirtschaftsbericht dargestellt und prognostiziert hat wie diese Regierung. Ich bin sicher, dass auch die Abgeordneten der Koalition interessiert sind, zu hören, was die Bundesregierung von diesem Jahr erwartet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man nicht immer dazu kommt, alle Unterlagen bis zum Ende zu lesen, und trage daher jetzt die wichtigsten Sätze vor. Die Regierung sagt auf Seite 96: Die Summe der Nettolöhne und -gehälter stagniert in diesem Jahr erneut. Dort heißt es weiter: Die Selbständigen- und Vermögenseinkommen dürften ... in diesem Jahr kräftig zunehmen ... Die Regierung geht von 7,25 Prozent aus. Ich möchte das noch einmal verdeutlichen: Die Arbeitnehmer erhalten nichts und die Vermögenden und diejenigen, die über Gewinneinkommen verfügen, erhalten wie im vergangenen Jahr einen Zuwachs in Höhe von 7,25 Prozent. Das stellt die Regierung als Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitik richtigerweise fest. (Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das hat Herr Stiegler nicht gelesen!) Im Bericht heißt es weiter, dass sich die monetären Sozialleistungen des Staates insgesamt leicht vermindern werden. Das heißt, der Staat wird weniger soziale Leistungen erbringen. Am Schluss dieser eindrucksvollen Zukunftsbilanz heißt es: Ferner werden angesichts einer stagnierenden Lohnentwicklung im vergangenen Jahr die Renten erneut nicht steigen. Das alles ist richtig, aber ich habe selten ein Resümee gelesen, in dem in solch beeindruckender Klarheit von einer Regierung festgestellt wird, dass weiter von unten nach oben umverteilt wird und dass diese Regierung dazu steht. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Wir halten das für eine katastrophale Bilanz. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe hier bereits darauf hingewiesen - und muss mich wundern, dass es nicht aufgegriffen wurde -, dass sich eine Schlüsselgröße der Volkswirtschaft, nämlich die Löhne, in Deutschland beängstigend entwickelt. Wir haben im letzten Jahr zum ersten Mal nach dem Krieg fallende Bruttolöhne verzeichnet. Ich wiederhole das, weil auch in der Berichterstattung immer wieder von fallenden Netto- oder Reallöhnen die Rede war. Wir hatten erstmals fallende Bruttolöhne! Es war nicht nur so, dass die Gewinn- und Vermögenseinkommen deutlich gestiegen sind, sondern gleichzeitig hat man den Arbeitnehmern, wie die Wirtschaftsabteilungen der Gewerkschaften ausgerechnet haben, brutto 6 Milliarden Euro genommen. Ich kenne keinen vergleichbaren Industriestaat, der eine solche Entwicklung verzeichnet. Trotzdem hat ein Redner in diesem Hause gesagt: Die Sonne scheint. Ich will mich mit ihm gar nicht persönlich auseinander setzen, darf aber für die große Mehrheit der Bevölkerung feststellen, dass die Sonne nicht scheinen wird, weil die Renten trotz steigender Preise nicht steigen werden und weil die Bruttolöhne trotz steigender Preise fallen oder stagnieren werden. Das heißt, die große Mehrheit des Volkes wird in diesem Jahr weiterhin Verluste hinnehmen müssen. Das ist eine beängstigende Bilanz, zu der man doch Stellung nehmen müsste! (Beifall bei der LINKEN) In dieser Situation ist das Hauptanliegen der Regierungsparteien und auch konkurrierender Parteien, die Lohnzusatzkosten zu senken. Die hohen Lohnzusatzkosten seien das wichtigste Problem unserer Volkswirtschaft. Aus Unternehmersicht sind Lohnzusatzkosten Löhne. Angesichts der Tatsache, dass die Bruttolöhne fallen, ist es ganz merkwürdig, wenn man davon spricht, dass das Hauptanliegen unserer Volkswirtschaft darin bestehe, die Lohnzusatzkosten zu senken; das sei vor allem wichtig, weil wir sonst international nicht mehr wettbewerbsfähig seien. Welch ein gigantischer Schwachsinn - ich muss das hier so deutlich sagen - wird täglich abgesondert, wenn davon gesprochen wird, dass wir international nicht mehr wettbewerbsfähig seien! (Beifall bei der LINKEN) Wir sind die wettbewerbsfähigste Industrienation der Welt! Kein anderes Land exportiert so viele Waren wie die Bundesrepublik Deutschland. Weder die Chinesen noch die Inder, noch die Japaner oder die US-Amerikaner exportieren so viel wie wir; dennoch heißt es immer wieder, wir seien international nicht wettbewerbsfähig. Wenn die Realität nach wie vor so geleugnet wird, wie es zurzeit geschieht, wird es niemals möglich sein, in Deutschland zu Wachstum und Beschäftigung zu kommen. (Beifall bei der LINKEN - Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Das ist Voodoo-Ökonomie!) Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, wir stünden bei der Steuerquote doch nicht schlecht da. Es wurde insoweit eine gewisse Korrektur all der Beiträge vorgenommen, die in den letzten Monaten geleistet worden sind, als immer wieder darauf hingewiesen worden ist, dass die Steuerquote bei uns vielleicht nicht ganz so hoch, die Abgabenquote aber beträchtlich sei. Insofern ist es verdienstvoll, dass für all diejenigen, die sich falsch geäußert haben - ich will niemanden persönlich ansprechen -, im Jahreswirtschaftsbericht wieder einmal die Steuer- und Abgabenquote nach der OECD-Statistik für Deutschland im internationalen Vergleich dargestellt worden ist. Jeder, der willens ist, nachzulesen, kann auf Seite 23 nachlesen, dass wir bei der Steuerquote Großbritannien um circa 9 Punkte nach unten übertreffen. Bei der Abgabenquote liegt Deutschland bei 34,6 Prozent und Großbritannien bei 40,6 Prozent. Das sind - bezogen auf unser Bruttosozialprodukt - weit über 160 Milliarden Euro, die den öffentlichen Haushalten in Großbritannien zusätzlich zur Verfügung stehen und Großbritannien hat keine Einheit zu finanzieren. Ist denn immer noch nicht klar, dass es mit einer solchen Steuer- und Abgabenpolitik unmöglich ist, einen modernen Industriestaat zu verwalten? (Beifall bei der LINKEN) Kein Industriestaat der Welt leistet sich eine solch katastrophale Fehlentwicklung. Ich wiederhole für das geschätzte Plenum die Durchschnittszahlen: Während der europäische Durchschnitt bei der Steuerquote bei 28,9 Prozent liegt, liegt er bei uns bei 20,4 Prozent. Während der europäische Durchschnitt bei der Abgabenquote bei 40,5 Prozent liegt, liegt er bei uns bei 34,6 Prozent. In einer solchen Situation muss man natürlich dazu kommen, dass man die sozialen Leistungen kürzt. In einer solchen Situation muss man natürlich dazu kommen, dass man für die Rentner nichts mehr übrig hat. Aber ein solcher Weg kann immer nur zu demselben Ergebnis führen: Im Export sind wir stark, weil eine solche Politik den Export nicht gefährdet, sondern eher noch leicht unterstützt. Aber auf dem Binnenmarkt wird es sein wie immer in den vergangenen Jahren: kein Wachstum und damit auch keine Unterstützung für Beschäftigung, was wir in diesem Lande jedoch dringend bräuchten. (Beifall bei der LINKEN) Weder mit einer Politik der Umverteilung von unten nach oben, die Sie in eindrucksvoller Weise hier dargelegt haben, (Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na, ja!) noch mit einer Steuerpolitik, die angesichts der beabsichtigten Mehrwertsteuererhöhung weiter von unten nach oben diese Art und Weise umverteilt, ist irgendeine vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen. Um das auch Herrn Kuhn von den Grünen noch einmal zu sagen: Die Alternative zu einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung ist nun einmal eine Vermögensteuer, für die ich hier nachdrücklich werben möchte. (Beifall bei der LINKEN) Ich will noch einmal die Zahlen dazu nennen: Das Geldvermögen der Deutschen beläuft sich auf über 4 000 Milliarden Euro. Von diesen 4 000 Milliarden Euro - einfach zum Nachrechnen - haben die obersten Zehntausend 2 000 Milliarden Euro. Hätte irgendjemand den Mut, nur das Geldvermögen der obersten Zehntausend mit 5 Prozent zu besteuern, käme man in die Nähe der durchschnittlichen europäischen Abgabenquote und hätte in den öffentlichen Haushalten 100 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. (Beifall bei der LINKEN) Stattdessen kürzen Sie Renten, soziale Leistungen und drücken auf Löhne. Ich möchte noch etwas zur Lohnentwicklung in Deutschland sagen. Sie kommt nicht von ungefähr und es ist auch nicht so, dass man sich zurücklehnen und sagen kann, dafür seien die Tarifparteien in der Verantwortung. Nein, die Große Koalition oder die Allparteienkoalition, die in den letzten Jahren hier gewirkt hat, hat erheblichen Anteil an diesem Ausnahmezustand, dass die Bruttolöhne in Deutschland fallen. Wer Freiheit versteht, Herr Kollege Brüderle - das muss ich hier einmal sagen -, als Freiheit von Tarifverträgen, wer Freiheit versteht als Freiheit von Kündigungsschutz, wer Freiheit versteht als Freiheit von sozialer Sicherung - ich denke dabei an das Streichen der Arbeitslosenhilfe und das Kürzen des Arbeitslosengeldes -, der setzt die Arbeitnehmer einer Situation aus, in der sie leichter erpressbar sind, in der sie es nicht wagen, kräftig für ihre Interessen einzutreten, aus Angst, dann Hartz-IV-Bezieher zu werden. Deshalb sinken die Löhne und deshalb ist diese perverse Arbeitsmarktpolitik endlich zu revidieren. (Beifall bei der LINKEN) Vor dem, was Sie hier selbst bilanziert haben, kann doch niemand die Augen verschließen. Sie bilanzieren eine Umverteilung von unten nach oben. Schrecklich! Früher hätte es von bestimmten Gruppen bei einer solchen Bilanz Aufstände gegeben. Sie sagen hier dann noch fröhlich: Die Sonne scheint. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist so. Leider ist es aber so, dass die Sonne hier im Reichstag nur auf eine gewisse, ausgewählte Körperschaft scheint. Das ist bekanntlich nicht eine Versammlung von Hartz-IV-Empfängern, Rentnern oder Arbeitnehmern, die im Niedriglohnbereich tätig sind. Das ist das Problem. (Beifall bei der LINKEN - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber der Redner auch nicht!) Ich möchte noch einen Satz - meine Redezeit ist leider gleich zu Ende. (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!) Zu Ihrer Bemerkung, Herr Kollege Brüderle, auf die Zwischenfrage des Kollegen Diether Dehm zur Deutschen Bank sagen. Sie hätten schon etwas dazu sagen können, warum die Einkommen der Schwächsten systematisch fallen und die großen Betriebe keine Steuern mehr zahlen. Dazu kann man doch etwas sagen! Sie meinten dann, auf die Kombinate in der ehemaligen DDR verweisen zu müssen. Erlauben Sie mir dazu noch diese Bemerkung: Ich habe in der Presse gelesen, dass der Vorsitzende des Verwaltungsrates der BaFin - des Gremiums, das die Geschäftspraktiken der Banken kontrollieren soll -, Herr Staatssekretär Caio Koch-Weser, jetzt zur Deutschen Bank wechselt. Vielleicht haben Sie das gemeint. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich möchte Ihnen dann aber sagen: Wenn das Kombinatswirtschaft ist, dann sitzt das Politbüro nicht mehr in der Regierung, sondern in der Deutschen Bank. Das scheint ein Problem unserer Wirtschaft zu sein. (Beifall bei der LINKEN) Ich fasse zusammen: Bei dieser Art von Wirtschafts- und Finanzpolitik werden Sie im Export kein Unheil anrichten. Insofern können Sie da einen gewissen Beitrag erwarten. Aber auf dem Binnenmarkt wird es wie in all den letzten Jahren sein: Die Umverteilung wird das Wachstum bremsen und die Arbeitslosigkeit wird tendenziell auf hohem Niveau bleiben. Das heißt, Sie selbst kündigen schon den Fehlschlag an, für den Sie dann alle verantwortlich sein werden. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN - Ludwig Stiegler (SPD): Dann werden wir im nächsten Jahr vergleichen!)