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Die ländlichen Räume in Ost und West sind die großen Verlierer der aktuellen Politik

Rede von Kirsten Tackmann,

Immer mehr ländliche Räume werden zu sozialen Brennpunkten. Ein expandierender Niedriglohnsektor und Hartz IV führen dazu, dass nicht nur Langzeitarbeitslose, sondern auch Einzelhändler, Dienstleister und ihre Angestellten ihre Existenz nicht mehr bestreiten können. Gleichzeitig werden Umwelt- und Naturschutz zunehmend als wirtschaftsfeindlich oder gegen die Interessen der Menschen gerichtet dargestellt. Angesichts dieser Probleme wird dringender denn je ein zukunftsfähiges agrarpolitisches Konzept gebraucht . Kirsten Tackmann in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 10:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Um es gleich vorwegzusagen: Wir glauben, dass mit diesem Agrarhaushalt die Probleme im ländlichen Raum nicht nur nicht gelöst, sondern sich weiter zuspitzen werden. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Machen Sie mal Vorschläge!) Aber gestatten Sie mir zunächst eine grundsätzliche Bemerkung. Der nun auch von der Bundesbank bestätigte wesentliche kausale Zusammenhang zwischen fehlenden Einnahmen und dem Staatsdefizit bringt uns in eine prekäre Situation: Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten werden immer kleiner. Stattdessen verwalten wir selbstverschuldeten Mangel. Das trägt zu Politikverdrossenheit und Wahlverweigerung bei und beschädigt die Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Der erneut reduzierte Bundesagrarhaushalt spitzt die Probleme im ländlichen Raum weiter zu, selbst wenn man berücksichtigt, dass Bundesmittel nicht die einzige Finanzierungsquelle sind. Uns allen wurde die Aufgabe gestellt, mit nunmehr 5 Milliarden Euro zu politischen Rahmenbedingungen beizutragen, die dem ländlichen Raum und der Landwirtschaft eine wirkliche Zukunftschance eröffnen. Da ist selbst mit einer Prioritätensetzung nicht viel zu stemmen. Umso mehr kommt es aus unserer Sicht darauf an, wirtschaftliche, ökologische (Unruhe) - könnte ich um ein bisschen Ruhe bitten - und soziale Interessen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zusammenzudenken. Doch die gegenläufige Tendenz ist der Fall. Immer mehr ländliche Räume werden zu sozialen Brennpunkten. Ein expandierender Niedriglohnsektor und Hartz IV führen dazu, dass nicht nur Langzeitarbeitslose, sondern auch Einzelhändler, Dienstleister und ihre Angestellten ihre Existenz nicht mehr bestreiten können. Gleichzeitig werden Umwelt- und Naturschutz zunehmend als wirtschaftsfeindlich oder gegen die Interessen der Menschen gerichtet dargestellt. Angesichts dieser Probleme wird dringender denn je ein zukunftsfähiges agrarpolitisches Konzept gebraucht. (Beifall bei der LINKEN) Im Zentrum unserer konzeptionellen Gedanken steht, dass eine sozialökologische Umgestaltung der Gesellschaft zwingender denn je ist und dass die ländlichen Räume mit ihrer Agrarwirtschaft dabei eine zentrale Funktion haben. Sie müssen als soziale und nicht nur als wirtschaftliche Räume politisch gestaltet werden, und zwar so, dass auch künftige Generationen dort leben können. Das heißt, sowohl natürliche Ressourcen zu schonen als auch existenzsichernde Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen - nicht nur in der Landwirtschaft. Das ist zugegebenermaßen gelegentlich ein Spannungsfeld, das sich aber mit gutem Willen und klugen Ideen durchaus auflösen lässt und das aufgelöst werden muss, wollen wir nicht die zunehmende Verarmung und Vergreisung in den ländlichen Räumen tatenlos hinnehmen. Das heißt agrarkonzeptionell gedacht: Erstens. Wir brauchen existenzsichernde Arbeitsplätze auch in der Landwirtschaft. Die Tendenz zu diskontinuierlicher, saisonaler Beschäftigung und Niedriglohn hat gerade im ländlichen Raum dramatische Folgen. Wir wollen keine Tagelöhner. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck? Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Selbstverständlich. Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Frau Kollegin, um Ihnen die Chance zu geben, uns aufzuzeigen, was man im Einzelnen tun könnte, hätte ich folgenden Hinweis für Sie: Die Kollegen Holzenkamp und Kues und ich kommen aus einer Region mit intensiv betriebener Landwirtschaft. Schauen Sie sich einmal die Schweine- und die Hühnerhaltung in diesen Regionen an, auch die Ernährungswirtschaft und die dort ausgewiesenen FFH-Gebiete und vergleichen Sie dies mit dem Bundesdurchschnitt! Dann werden Sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Tagelöhner, von denen Sie gesprochen haben, immerhin dazu geführt haben, dass die Arbeitslosenquote bei uns um 6 Prozent beträgt. Zeigen Sie mir einmal andere Räume in Deutschland, wo die Entwicklung so positiv verläuft, und sagen Sie mir einmal, was Sie in diesen Räumen umgestalten wollen, wenn man die Politik umsetzen würde, die zu skizzieren Sie uns eigentlich schuldig bleiben. Sagen Sie uns einmal, was wir dann zu erwarten haben! Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Mir ging es um die Tagelöhner, denen für die Arbeit 2,50 Euro pro Stunde gezahlt werden und die auch nur zeitweise arbeiten können. Ich glaube, es ist unser gemeinsames Anliegen, die saisonale und diskontinuierlich anfallende Arbeit in der Landwirtschaft in eine ganzjährige Beschäftigung zu überführen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Sie haben selber einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Das muss unser Ansatz sein. Diskontinuierliche und saisonale Arbeit kann nicht unsere Zukunft sein. - Aber recht schönen Dank für Ihre Nachfrage. Ich fahre fort und zähle jetzt einige Punkte auf, die auch Antworten auf Ihre Frage sind. Zweitens. Als traditioneller Kern der ländlichen Wirtschaft muss flächendeckende Land- und Forstbewirtschaftung mit vielfältigen Betriebsstrukturen und Eigentumsformen gesichert werden. Drittens. Regionale Wirtschaftskreisläufe können ein stabilisierender Faktor für die regionalen Arbeitsmärkte sein. Viertens. Wir wollen eine multifunktionale Landwirtschaft, die sich neue Erwerbsfelder erschließt, ob regenerative Energien, nachwachsende Rohstoffe oder Tourismus. Fünftens. Die Agrarwirtschaft muss umweltgerecht und verbraucherorientiert sein. Das spricht zum Beispiel gegen eine Anwendung der Grünen Gentechnik, aber für eine tierschutzgerechte Nutztierhaltung. (Beifall bei der LINKEN) Sechstens. Die Pflege und ökologisch sinnvolle Gestaltung der Kulturlandschaft durch die Landwirte muss als gesellschaftlich gewollte Arbeitsleistung entlohnt werden. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Ganz wichtig!) Messen wir also den vorliegenden Agrarhaushalt an diesen Herausforderungen. Ich fange einmal mit dem Positiven an. Die Bundeszuschüsse für das agrarsoziale System sollen nicht gekürzt werden. Das ist ein richtiger und mutiger Schritt; denn immerhin - das ist bereits gesagt worden - macht dieser Etat 75 Prozent des Gesamthaushalts aus. Da sind Begehrlichkeiten vorprogrammiert. Es ist dringend erforderlich, diese Begehrlichkeiten angesichts der meist geringen Verdienste in der Landwirtschaft abzuwehren. Weitere Beitragserhöhungen wären von vielen nicht mehr zu verkraften. Der letzte Agrarbericht gab selbst für das Spitzenjahr 2004/05 einen Durchschnittsgewinn plus Personalaufwand von nur rund 23 000 Euro je Arbeitskraft an. Als Landwirt wird man im Laufe des Lebens vermutlich reich, aber nur an Erfahrung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die bloße Fortschreibung der Bundeszuschüsse ist kein zukunftsfähiges Konzept. Die dafür notwendigen Überlegungen müssen unter Einbeziehung der Betroffenen angestellt werden und die Lösungen solidarisch und sozial gerecht sein. (Beifall bei der LINKEN) Ich fahre mit einem weiteren positiven Aspekt - viel mehr gibt es nicht - fort. Das Budget für Verbraucherpolitik im Bundeshaushalt lässt erkennen, dass die Lebensmittelskandale der vergangenen Monate nicht ganz spurlos geblieben sind. Die tatsächliche Lage in diesem Bereich wird aber leider nicht stabilisiert; denn auf Länderebene wurden die finanziellen Mittel für die Verbraucherzentralen zum Teil drastisch gekürzt. Das gilt vor allen Dingen für die ärmeren Bundesländer. Dort leben aber meistens auch die ärmeren Menschen. Für sie sind die immer weiteren Wege zu den Beratungsstellen kaum mehr überbrückbar - und das in einer Situation, in der die Herausforderungen an die mündige Verbraucherschaft immer größer werden. Das heißt, Arme werden noch rechtloser und damit noch ärmer. Schauen wir uns als nächstes den Etat für die Gemeinschaftsaufgabe an. Der Situationsbericht 2006 des Deutschen Bauernverbandes stand unter dem Motto „2005 nur noch 685 Millionen Euro“. Jetzt verhandeln wir über gerade einmal 615 Millionen Euro. Das sind 70 Millionen bzw. circa 10 Prozent weniger. Das ist nicht alles. Auch die EU-Mittel für den ländlichen Raum, die so genannte zweite Säule, werden drastisch, nämlich um durchschnittlich 40 Prozent, gekürzt, obwohl sie schon ungekürzt alles andere als ausreichend waren. Um die Liste des Raubbaus an finanziellen Mitteln für die ländliche Strukturpolitik zu vervollständigen: Der Bund kofinanziert mit Mitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe Landesmittel. Also gehen auch diese verloren. Hinzu kommt, infolge der ebenfalls bundespolitisch verursachten Haushaltsnotstände, der zunehmende Ausfall der öffentlichen Hand bei Investitionen in den ländlichen Gemeinden. Fazit: Die ländlichen Räume sind die großen Verlierer der aktuellen Politik, und zwar in Ost und in West. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Fazit: Steuern rauf, Wirtschaft kaputt - oder was?) Diese Misere wird durch die neuen Ideen zur Besteuerung der biogenen Kraftstoffe - sie wurden schon genannt - verstärkt. Dadurch droht eine Vernichtung der umfangreichen Investitionen, gerade der dezentralen Ölmühlen. Eine neu erschlossene Wertschöpfungsquelle im ländlichen Raum wird damit versiegelt. Das kommt dabei heraus, wenn man die Agrarstrukturpolitik vom Finanzminister machen lässt. Das ist zumindest politisch unklug. (Beifall bei der LINKEN) Zum Schluss will ich ein Thema ansprechen, weil auf diesem Gebiet seit Jahren Handlungsbedarf vorhanden ist, der zwar offensichtlich, aber unbeachtet geblieben ist. Tierseuchen und Zoonosen sind seit Jahren im zunehmenden Maße medial gefühlte oder tatsächliche Bedrohungen für Menschen und Nutztiere. Leider muss aber oft erst der Ernstfall eintreten, bevor die Politik sie als Risiko wirklich wahrnimmt. Die Ereignisse um die Vogelgrippe in den vergangenen Wochen haben eines bewiesen: Der Bundesrepublik fehlen Ressourcen in der veterinärepidemiologischen Forschung. (Beifall bei der LINKEN) Auf diesem Gebiet sind wir bestenfalls ein Entwicklungsland. Einige Nachbarländer haben spätestens nach den brennenden Kadaverbergen des MKS-Seuchenzugs in Großbritannien reagiert und die Veterinärepidemiologie gestärkt. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch! Mein Gott, wo kommen Sie her?) In der Bundesrepublik wurden als Schlussfolgerung aus der BSE-Krise zwar zwei große neue Bundesinstitute geschaffen, an der Veterinärepidemiologie ging dieses Füllhorn aber vorbei. Gestern teilte mir Minister Seehofer per Antwortbrief mit, dass er an den Umzugsplänen für das Institut für Epidemiologie des Friedrich-Loeffler-Instituts in Wusterhausen festhalten will. Seine Begründung: Synergieeffekte. Das ist die Begründung seiner Vorgängerin. Der Umzug an einen wenig geeigneten Standort ist aber nach BSE, MKS, Schweine- und Geflügelpest falscher als 1996. (Beifall bei der LINKEN) Damit würde mittel- und erst recht langfristig die Arbeitsfähigkeit der einzigen ausschließlich veterinärepidemiologisch arbeitenden Einrichtung in der Bundesrepublik gefährdet und damit die wissenschaftliche Beratung des Bundesministeriums bei diesen Themen. Eine vernünftige Ausgabenpolitik sieht, denke ich, anders aus. (Beifall bei der LINKEN) Die richtige Schlussfolgerung aus den Ereignissen der vergangenen Wochen wäre die Aufarbeitung der offensichtlichen Defizite, statt die Fehler der Vorgänger fortzusetzen. Nicht das Festhalten am Umzug, sondern die Stärkung dieses Instituts wäre das Gebot der Stunde, übrigens auch unter strukturpolitischen Gesichtspunkten. Es geht hier um die letzten Arbeitsplätze in der Wissenschaft in einer Region mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit und um einen der größten lokalen Arbeitgeber. Es geht aber nicht nur um den Standort. Die Diskrepanz zwischen den notwendigen und den personell tatsächlich verfügbaren Ressourcen wird in diesem Ressortforschungsbereich immer größer. Das Gleiche gilt in der Bundesforschung für die Forschung zu wildbiologischen Fragen. Diese Defizite sind zwar bei der aviären Influenza offensichtlich geworden, sie sind aber für andere Wildtierinfektionen wie Tollwut, Wildschweinepest und Kleiner Fuchsbandwurm ebenso gültig. Angesichts dieser Situation klingen die gestrigen vollmundigen Bekenntnisse der Koalition zur Forschung nur bedingt glaubwürdig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN)