Inge Höger in der Debatte zur Föderalismusreform : Die Koalition wollte mit der Föderalismusreform Entscheidungen zu den Menschen bringen. Stattdessen bringt den Menschen mehr Bürokratie, ein Wirrwarr von Verordnungen und einen Abbau von Sozialstandards. Statt der Lösung dringender Probleme wie Erwerbslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit wird auf dem Rücken der Betroffenen ein Kuhhandel abgeschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Föderalismusreform könnte zum Unwort des Jahres werden, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Na ja!) nicht weil die Menschen im Lande diesen Begriff nicht verstehen, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie haben ihn wahrscheinlich nicht verstanden!) sondern weil das, was als Jahrhundertreform und als Befreiung von der Selbstblockade angekündigt wird, in Wahrheit ein Bürokratiemonster ist. Sie verhindert eine einheitliche Bildungspolitik, eine einheitliche Vorschulförderung und eine einheitliche Hochschulpolitik. Es fehlt auch eine einheitliche Antwort auf die PISA-Studie. Sie macht effektiven Naturschutz und vernünftigen Hochwasserschutz unmöglich. Wir brauchen endlich ein einheitliches Umweltrecht statt eines neuen Kompetenzwirrwarrs. Man sollte doch glauben, dass es ihr Ziel war, für Entbürokratisierung und für Verbesserungen für die Menschen zu sorgen. Herausgekommen sind allerdings massive Verschlechterungen für viele. Die Länder und Gemeinden haben sinkende Steuereinnahmen zu verzeichnen. Nun suchen sie nach Einsparmöglichkeiten und sehen diese erfahrungsgemäß nicht bei Wirtschaftssubventionen oder beim Straßenbau, sondern eher in den Haushalten für Soziales und für Jugend. Die Länder und Gemeinden geben dem Druck von Firmen nach, die mit Arbeitsplatzverlagerungen drohen. Die Zuständigkeit des Bundes stellte bisher häufig eine Grenze dar. In Zukunft wird es einen Wettbewerb zwischen den Ländern - den sie ja alle befürworten - um das schnellste Sozialdumping geben. Das ist der Inhalt dieser Reform. Das wird zum Beispiel die Menschen, die in Heimen leben, betreffen, also Menschen mit Behinderungen, Alte und chronisch Kranke. Das Heimrecht soll nun Ländersache werden. Einzelne Bundesländer haben bereits angekündigt, ihre Pflegestandards zu senken und den Pflegeschlüssel nach unten zu schrauben. Dabei waren es gerade die Missstände in den Heimen, die 1974 dazu geführt haben, dass das Heimrecht auf die Bundesebene übertragen wurde. Die in diesem Bereich tätigen Vereine laufen dagegen Sturm: Die Caritas, sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU, die Arbeiterwohlfahrt, liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die Verbraucherzentralen, werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, und wichtige private Träger von Pflegeheimen - das sage ich an die Liberalen gerichtet -, alle protestieren energisch gegen die Verlagerung der Zuständigkeit für das Heimrecht auf die Länder. (Beifall bei der LINKEN) Worum geht es diesen Verbänden? Wenn Eltern behinderter Kinder umziehen müssen, können sie sich in Zukunft nicht mehr darauf verlassen, dass ihr Kind in einem anderen Bundesland ähnliche Bedingungen vorfindet. Angehörige pflegebedürftiger alter Menschen werden sich nicht mehr darauf verlassen können, dass an der Ostseeküste bei der Heimpflege ähnliche Qualitätsstandards gelten wie in der Rhön. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich ein Skandal!) Die Menschen, die beruflich Pflege organisieren, müssen demnächst nicht nur vier Ausführungsverordnungen zum Heimgesetz kennen, sondern 4 mal 16, also 64. Die geplante Grundgesetzänderung würde also einen enormen Zuwachs an Bürokratie - ja, einen Zuwachs - bedeuten. Alle gegenteiligen Behauptungen sind schlicht unwahr. (Beifall bei der LINKEN) Betroffen sind auch Kinder und Jugendliche, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, in Familien, die Hilfen von Jugendämtern in Anspruch nehmen müssen. Denn die geplante Grundgesetzänderung trifft auch die Jugendämter. Bisher fungieren die örtlichen und die Landesjugendämter als Berater von Familien, als Ansprechpartner für Frauen mit Unterhaltsproblemen, für missbrauchte Mädchen, für belastete Jugendliche. Demnächst werden diese Ansprechpartner kaum noch ansprechbar sein. Denn wer glaubt im Ernst, dass die armen Kommunen bzw. die Landesfinanzminister weiterhin Jugendämter vorhalten werden, die fachlich fundiert über Hilfebedarf entscheiden können? Auch dies wird der Sparwut und somit dem Sozialdumping zum Opfer fallen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nicht nur unmittelbar von der jetzt vorgesehenen vollständigen Verlagerung der Zuständigkeit für das Dienstrecht auf die Länder betroffen sein, sondern auch mittelbar. Künftig wird es einen Kostenwettbewerb zwischen den Ländern geben. Im sozialen und im Gesundheitssektor lassen sich Kosten in der Regel aber nur durch Personalabbau sparen. Das betrifft unter anderem die Hochschulkliniken, die nun von den Ländern anerkannt, gefördert, gesteuert werden sollen. Dadurch werden sie noch stärker in den Wettbewerb mit anderen Krankenhäusern geraten. Sie werden in einen Kostenwettbewerb gedrängt, der auf dem Rücken der zurzeit streikenden Pflegekräfte ausgetragen wird. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Wettbewerb, der entsteht, wenn die Zulassung von Arzneimitteln Ländersache wird, wird auch die Beschäftigten in der Pharmaindustrie treffen. Die Globalplayer werden die Länder künftig noch intensiver mit dem Arbeitsplatzargument gegeneinander ausspielen nach dem Motto: Erlaubt mir die Einleitung von Chemikalien in den Rhein oder wir verlagern den Betrieb. Mit der vorgesehenen Grundgesetzänderung soll die Bundeszuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau und das Wohngeld quasi abgeschafft werden. Das wird die Leute treffen, die auf Wohngeld oder Sozialwohnungen angewiesen sind. Sie wollen Entscheidungen zu den Menschen bringen? Die Föderalismusreform bringt den Menschen mehr Bürokratie, ein Wirrwarr von Verordnungen und einen Abbau von Sozialstandards. Statt der Lösung dringender Probleme wie Erwerbslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit wird auf dem Rücken der Betroffenen ein Kuhhandel abgeschlossen. Als Mitglied der Fraktion Die Linke kann ich diese Grundgesetzänderungen nur ablehnen; sie sind unsozial. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin Höger, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre Arbeit.
Die Föderalismusreform ist in Wahrheit ein ein Bürokratiemonster
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Inge Höger,