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Der aufrechte Gang

Rede von Wolfgang Neskovic,

Politik in der sozialen Demokratie hat eigentlich eine denkbar einfache Aufgabe zu erfüllen. Rosa Luxemburg hat sie beschrieben. Der Philosoph Ernst Bloch kannte sie. Auch das Bundesverfassungsgericht kennt die Formel zu einer gerechten Politik. Sie besteht in der Kombination der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit: das ganze Gegenteil der Politik der gegenwärtigen Koalition. In der 31. Sitzung des Deutschen Bundestages sprach Wolfgang Nešković zu schwarz-gelber Unfreiheit und Ungleichheit.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrte Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger,

Der Philosoph Ernst Bloch prägte einst das Bild vom „aufrechten Gang“.

Ihn zu erlernen sei schwer, aber möglich. Zwei Lasten verwehren es den Menschen, aufrecht zu gehen. Auf ihren seelischen Schultern lasten Ungleichheit und Unfreiheit. Auf der einen Schulter lasten soziale Not und Verelendung. Auf der anderen staatliche Bevormundung und Entrechtung. Aufrecht wollte Bloch uns sehen. Doch wirklich aufrecht geht der Mensch nur als Freier unter Gleichen.

Freiheit und Gleichheit sind die tragenden Prinzipien unseres Grundgesetzes. Politik - insbesondere die Rechtspolitik - bewegt sich innerhalb dieser Grenzen. Der Rechtsstaat und die Freiheitsrechte des Grundgesetzes sollen es Jedermann ermöglichen, sich gegen staatliche Entrechtung zu Wehr zu setzen. Die Grundrechte als Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Sie stellen institutionalisiertes Misstrauen gegen einen unvernünftigen Staat dar. Das Sozialstaatsprinzip hingegen verpflichtet den Staat zum sozialen Ausgleich und zur Schaffung einer gerechten Sozialordnung.

Oder, um es mit den Worten von Heribert Prantl auszudrücken:

„Der Sozialstaat ist mehr als der liberale Rechtsstaat, er ist der Handaustrecker für die, die eine helfende Hand brauchen.“

Im über 60 Jahre alten Verfassungstext schlummert eine unverwirklichte Utopie: der soziale Rechtsstaat. Er ist ein gutes Wegstück auf der Reise in eine humane Gesellschaft. Diesen Weg müssen wir beschreiten, wenn wir uns beim Gang in die Zukunft allmählich aufrichten wollen. Doch die neoliberale Politik der letzten zwei Jahrzehnte hat die Utopie der Verfassung missachtet. Sie hat die Lasten auf den Schultern der Menschen noch vermehrt. Sie hat mit Sozialabbau und Reallohnverlusten das Gewicht der Ungleichheit vergrößert. Sie lässt zu, dass sich die Schere zwischen reich und arm täglich vergrößert.

Freiheit hält sie für Wirtschaftsliberalismus. Gleichheit hält sie für ein Fremdwort. Die neoliberale Politik hat mit den technischen Mitteln der Informationsgesellschaft einen Überwachungsstaat zu errichten begonnen, der die Bürger mit neuen Unfreiheiten beschwert. Am ferneren Ende des Weges dieser neoliberalen Politik steht eine andere Gesellschaft. In ihr werden die Armut und die Wut der Gebückten für sozialen Kämpfe sorgen. Wir werden sehen, ob dann die Instrumente des Überwachungsstaats genutzt werden, um den sozialen Protest der Menschen zu unterbinden.

All das ist nicht die Vision des Grundgesetzes. Die Vision des Grundgesetzes besteht darin, die Ideale von Freiheit und Gleichheit miteinander zu vereinen. Denn es gibt keine wirkliche Freiheit ohne Gleichheit. DIE LINKE hält es da mit Rosa Luxemburg.

”Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung. Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.”

Wenn Sie das aufregt, dann lesen sie andere Urheber desselben Gedankens. Sie müssen nicht Rosa Luxemburg glauben. Sie müssen auch keinen Ernst Bloch verstehen. Lesen Sie die Texte unserer Verfassungshüter.

Am 17. August 1956 formulierten die Richter des Bundesverfassungsgerichts (ich zitiere):

”Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern.”

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Das ist der Auftrag des Grundgesetzes. Das haben uns die Verfassungshüter in das politische Stammbuch geschrieben. 54 Jahre später hält Herr Westerwelle die Umsetzung dieses Auftrages für spätrömische Dekadenz. Herr Westerwelle verglich die Lebenswirklichkeit von Hartz IV - Empfängern mit der Dekadenz der römischen Oberschicht in der Spätantike. Spätrömische Dekadenz existiert in unserem Land. Nie zuvor gab es in der Bundesrepublik so viel Reichtum in den Händen so Weniger.

Reichtum, der nutzlos an den Börsen dieser Welt verzockt wird - zu Lasten der Allgemeinheit. Wenn Herr Westerwelle also wissen will, wie die Dekadenz der römischen Oberschicht in etwa ausgesehen haben mag, dann sollte er das Lebensumfeld einiger Menschen untersuchen, die seiner Partei regelmäßig Großspenden zukommen lassen.

Seine von historischer Ahnungslosigkeit geleitete Aufregung hatte allerdings Gründe. Sein aggressiver Eifer wurde durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-IV entfacht. Wieder hatte das Gericht über den Wert der Gleichheit in unserer Gesellschaft zu entscheiden.

Am 9. Februar 2010 stellte es fest, dass die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze gegen den vornehmsten Artikel unseres Grundgesetzes und gegen eines ihrer tragenden, unveränderlichen Prinzipien verstößt:

- gegen die Menschenwürde und
- gegen das Sozialstaatsprinzip

Das Bundesverfassungsgericht legte fest, dass ein einklagbarer Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besteht. Dieser Anspruch ist „unverfügbar“ und muss “stets“ gewährleistet sein. Das war eine kleine juristische Revolution im Namen der Gleichheit.

Wir benötigen größere juristische Revolutionen, um den aufrechten Gang im Blochschen Sinn zu lernen. Denn die Vision des Grundgesetzes scheitert an der daran, dass die Mehrheit in diesem Hause sich dieser Vision in trotziger Uneinsichtigkeit verschließt. Sie übersieht den sozialen Gehalt der Verfassung. Dieser Ignoranz muss ohne die Hilfe des Bundesverfassungsgericht entschlossen begegnet werden. Wir benötigen im Text des Grundgesetzes Präzisierungen des Sozialstaatsprinzips und konkrete soziale Grundrechte. Wir benötigen zum Beispiel Formulierungen im Verfassungstext wie diese:

”Die Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter dem besonderen Schutz des Staates.”

”Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.”

”Kapitalbildung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Entfaltung der Volkswirtschaft.
Das Geld- und Kreditwesen dient der Werteschaffung und der Befriedigung der Bedürfnisse aller Bewohner.”


Sie sollten hier klatschen, besonders die Kollegen aus Bayern. Denn die zitierten Formulierungen stammen aus ihrer Landesverfassung. Die in ihnen enthaltenen Vorstellungen weisen in eine humanere Gesellschaft, von der wir zur Zeit noch weit entfernt sind. Sie blieben auch in Bayern eine Utopie.

Das heißt jedoch nicht, dass wir uns von dieser Utopie verabschieden sollten. DIE LINKE. jedenfalls wird sich nicht von dieser Utopie einer humanen Gesellschaft verabschieden, in der Freiheit und Gleichheit zu einem Optimum entwickelt werden. Das ist - im Blochschen Sinne - der Weg zum aufrechten Gang der Menschen.

Diesen Weg beschreitet die gegenwärtige Koalition mit ihrer im Koalitionsvertrag angelegten Politik nicht.

Sie hat Angst, die Banken an den Kosten der Rettungspakete der Finanzkrise zu beteiligen.

Sie zaudert und geizt bei den sozialen Ausgaben.

Sie lehnt einen flächendeckenden Mindestlohn ab. Sie befürwortet damit die Ausbeutung von Menschen.

Sie hat im Koalitionsvertrag Vorstellungen zum Mietrecht offenbart, die den sozialen Zorn von 50 Millionen Mietern in unserem Land schüren werden.

Die Kündigungsfristen im Mietrecht zu Lasten der Mieter zu verkürzen und diese auch noch an energetischen Sanierungsmaßnahmen zu beteiligen - sind Ausdruck einer Klientel-Politik.

Das ist die Politik des kalten Herzens.

Die Koalition hat vor, das moderne Jugendstrafrecht von seinem Erziehungsgedanken zu entfernen. Hier sollen wieder die deutschen Stammtische die Oberhand erhalten. Herr Koch lässt grüßen.

Wir halten daran fest: Bei Jugendlichen geht Erziehung vor Strafe.

Diese Koalition steht - trotz ihrer Justizministerin - weiterhin für eine freiheitsbedrohende Sicherheitspolitik.

Die Politik dieser Koalition ist für die Menschen in unserem Lande ein Debakel.

Das liegt schon an den politischen Grundvorstellungen, die beide Parteien in die Regierung einbringen. Die CDU/CSU ist mit ihrer Sicherheitspolitik kein Freund der Freiheit. Bei ihr gilt immer noch der Grundsatz: Im Zweifel für die Sicherheit und nicht für die Freiheit.

Die FDP dagegen ist kein Freund der Gleichheit. Sie ist eher ihr Feind.

Diese beiden Partner treffen nun in einer Wunschehe aufeinander. Die FDP trifft dort auf einen Partner, der kein Freund der Freiheit ist. Die CDU/CSU trifft auf einen Partner, der ein Feind der Gleichheit ist. Die Folgen für die Menschen sind bitter. Diese Koalition ist eine Koalition aus Unfreiheit und Ungleichheit.

Sie bringt den Menschen den gebückten Gang und nicht den aufrechten Gang. Diese Koalition führt uns weg vom Auftrag des Grundgesetzes. Sie entfernt uns von der humanen Utopie unserer Verfassung.

Hoffentlich nur für knappe vier Jahre. Ich halte es da mit der Hoffnung.

Es war das Lieblingswort von Ernst Bloch.


Ich danke Ihnen