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Birke Bull-Bischoff: MINT- Bildung: Für soziale Gerechtigkeit statt für den Arbeitsmarkt

Rede von Birke Bull-Bischoff,

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – das verbirgt sich nämlich hinter dem Kürzel MINT – gehören zu moderner Bildung. Warum? Weil wir solche großen Nummern wie Klimawandel, Digitalisierung der Gesellschaft, Demokratieentwicklung, eine gerechte Weltwirtschaft und Nachhaltigkeit nicht einfach über uns ergehen lassen dürfen, sondern weil wir sie aktiv mitgestalten müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dafür müssen kleine und große Menschen sich üben im Mitgestalten und im Mitentscheiden, eben nicht nur im Simulieren. Sie müssen naturwissenschaftliche und technische Sachen verstehen lernen und verändern können. Das braucht mehr als Anwenderqualitäten, meine Damen und Herren. Es geht immer noch um Bildung. Bücher lesen, programmieren, experimentieren, Kunst gestalten, kritisieren lernen, mit Abstand Dinge tun, hinter die Kulissen gucken, all das lernt man, wenn es gut läuft, in Kita und in Schule. Die wiederum brauchen dafür Profis verschiedener Ausbildungen: Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter, Wissenschaftlerinnen, Handwerkerinnen, Künstlerinnen,

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Fachlehrer!)

eigentlich so viel, wie es geht, und sie brauchen gute Lehr- und Lernmittel. Von all dem gibt es zu wenig. Das sind die Bildungsbremsen. Das muss an jeder passenden Stelle immer wieder gesagt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will auf vier Punkte aufmerksam machen, für die wir uns auch mit unserem Antrag starkmachen:

Erstens. Naturwissenschaftliche Bildung darf kein Eliteprojekt bleiben. MINT-Bildung muss für alle – ich betone: für alle – Schülerinnen und Schüler zugänglich werden. Das darf eben nicht nur eine allgemeine Phrase bleiben, sondern dafür müssen sich Praktiken und Denkweisen verändern. Mit anderen Worten: MINT-Bildung muss dort initiiert werden, wo man gemeinhin eben keine Talente vermutet: in Schulen, die in Brennpunktvierteln liegen und die mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind. Es bedarf einer Ansprache, die an die Lebenswelt ebendieser Kinder anknüpft, und es bedarf der Themen, die sie in ihrem Alltag – und der unterscheidet sich gelegentlich von dem der anderen – interessieren.

Zweitens. Ich finde, naturwissenschaftliche Bildung darf kein Männerladen bleiben; hierzu ist erfreulicherweise schon einiges gesagt worden. Wir sind immer noch richtig schlecht: In den MINT-Berufen gibt es einen Frauenanteil von 16 Prozent. Noch schlechter sind wir bei der MINT-Berufswahl: Hier liegt der Frauenanteil bei 8 Prozent. Das heißt, aus der Sicht von Frauen, genau genommen aus der Sicht der Gesellschaft, geht es weiter bergab. Hier müssen wir aufmerksam sein.

Hier gilt es, früh anzufangen, schon in der Kita. Es geht darum, Vorbilder im Alltag zu erleben. Das geht im Übrigen am besten durch Ganztagsschulen. Lehrkräfte müssen sensibilisiert werden. In der Studieneingangsphase müssen die Studierenden, vor allen Dingen die jungen Frauen, begleitet werden. Wichtig ist auch, dass man mit Frauen – lassen Sie mich das so zugespitzt formulieren – nicht umgeht wie mit kranken Pferden, sondern dass man sie auf Augenhöhe unterstützt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nein.

Drittens. MINT-Bildung hat im Osten eine lange Tradition. Sie hieß dort „polytechnische Bildung“. Daran gibt es viel zu kritisieren, aber es gibt auch sehr viel Interessantes, was man durchaus hinterfragen könnte. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Angebote, die vom Bund bereitgestellt werden, sehr viel weniger angenommen werden. Das muss uns nachdenklich machen. Lassen Sie mich das am Anteil der MINT-Regionen im Osten verdeutlichen. In Sachsen-Anhalt – das ist bei mir um die Ecke – gibt es eine einzige MINT-Region, obwohl Mitteldeutschland Chemieregion ist. In Nordrhein-Westfalen gibt es dagegen 41 MINT-Regionen. Das ist symptomatisch. Hier läuft was schief.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt, Akteurinnen und Strukturen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Berlin müssen direkt angesprochen werden, und ihre Erfahrungen müssen auf Wertschätzung stoßen.

Viertens. Naturwissenschaftliche Bildung darf kein Einfallstor für Lobbyismus werden. Herr Sattelberger, Redundanz und Klischees langweilen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stephan Albani [CDU/CSU])

Was ist eigentlich gemeint? Gemeint ist: Schulen sind momentan zum Beispiel in Bezug auf die digitale Infrastruktur ausgehungert. Es wird am Limit gearbeitet. Es gibt einen Mangel an gut ausgebildeten Lehrkräften und an dem, was man für digitales Lernen braucht. Wenn jetzt die ganz großen Player ans Tor klopfen – da bin ich mir im Übrigen mit sehr vielen aufmerksamen Lehrkräften einig –, dann sollte ein gerüttelt Maß an Skepsis und an Vorsicht aufgerufen werden; denn die Konzentration auf deren Betriebssysteme und auf deren Software gefährdet digitale Mündigkeit. Dabei ist das eine ganz zentrale Kompetenz.

Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Betriebssystemen aufwachsen, dass sie hinter die Kulissen gucken und selbst programmieren und verändern können; „Open Educational Resources“ ist das Stichwort. Wir brauchen Standards offener Bildung, Software, die mit offenen Quellcodes arbeitet, und wir brauchen Rahmenbedingungen, die zur Förderung dieser Bildungsmaterialien beitragen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen Interoperabilität, das heißt, das Miteinander der Systeme muss funktionieren. Außerdem brauchen wir eine Kultur des Tauschens und des Teilens statt der Abhängigkeit von Lizenzen geschlossener Programme.

Selbstverständlich sind wirtschaftliche Interessen legitim – wir werden auch künftig Schulbücher nicht von der Kultusbehörde schreiben lassen; selbstverständlich nicht –, aber in Schulen haben Lock-in-Effekte nichts zu suchen. Hier brauchen wir Aufmerksamkeit und Standards.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn ich es auf den Punkt bringen soll: MINT-Bildung muss nicht nur sensibel für Vielfalt sein, sondern Vielfalt muss dort auch stattfinden; sonst wird es nichts mit erfolgreicher MINT-Bildung.

(Beifall bei der LINKEN)