Zum Hauptinhalt springen

Beweislastumkehr führt zur Entsolidarisierung

Rede von Klaus Ernst,

Künftig sollen Menschen, die länger als ein Jahr mit einem Arbeitslosengeld-II-Bezieher zusammenwohnen, beweisen, dass sie nicht bereit sind, Verantwortung für den anderen, der mit ihnen zusammen lebt, zu übernehmen. Das ist die Umkehr der Beweislast. Das ist Aufforderung der Regierung zur Entsolidarisierung. Sie will, dass der, der für den anderen einsteht, von einem Kontrolleur besucht wird. Sie beabsichtigt letztendlich, dass die Menschen in diesem Land nicht mehr solidarisch sind, sondern sich anderen gegenüber zum Schwein entwickeln. Das will die LINKE. nicht, meine Damen und Herren. Klaus Ernst in der Debatte zum HartzIV Optimierungsgesetz.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Ich nehme schon mit Verwunderung zur Kenntnis, welchen nachhaltigen Eindruck diese Anhörung auf Sie gemacht hat. Offensichtlich reicht der normale Kontakt mit der Bevölkerung so lange, dass Sie drei Tage lang darüber lamentieren müssen. (Beifall bei der LINKEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die normale Bevölkerung wäre entsetzt, wenn sie gesehen hätte, was ihr veranstaltet habt!) Ich kann Ihnen nur sagen: Hätten Sie auch sonst Kontakt mit dem normalen Bürger dieses Landes, dann müssten Sie sich nach der Anhörung nicht so aufregen. Das ist doch die Realität in diesem Land. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, gestern lässt sich der Finanzminister dieses Landes mit den Worten zitieren: Es kann jetzt nicht um Leistungskürzungen gehen. Vorgestern haben Sie einen Änderungsantrag ins parlamentarische Geschehen eingebracht, in dem genau das steht. Beziehern von Arbeitslosengeld II wird das Arbeitslosengeld und auch das, was sie für ihre Wohnung erhalten, letztlich auf Null gekürzt. Die Residenzpflicht wird eingeführt und wer sich nicht daran hält, erhält kein Arbeitslosengeld. Wenn das keine Kürzung ist, dann weiß ich nicht, was Kürzungen sein sollen. Kürzungen liegen bei Ihnen dann vor, wenn man als Arbeitsloser noch Geld mitbringen muss. Das ist die Realität in diesem Land. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie wissen doch nicht, was Residenzpflicht ist! - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal, wann gekürzt wird!) - Warum regen Sie sich denn so über die Wahrheit auf? Haben Sie sonst keine Gelegenheit, die Wahrheit zu hören? Seien Sie froh, dass Sie im Parlament sitzen können; denn da Sie das selbst nicht mehr wahrnehmen, kann ich es Ihnen sagen. Das freut mich. (Beifall bei der LINKEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie schwätzen daher, ohne das gelesen zu haben!) Sie wollen 5 Milliarden Euro einsparen. Wo wollen Sie sie hernehmen? Natürlich wollen Sie sie von den Arbeitslosen nehmen. Das ist doch eine Einsparung in diesem Bereich. Sie stellen Langzeitarbeitslose unter den Generalverdacht des Leistungsmissbrauchs. Das hat das Forschungsinstitut der Bundesanstalt für Arbeit, das In-stitut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, festgestellt. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was haben sie festgestellt?) Das tun Sie, obwohl es keinen einzigen empirischen Beweis dafür gibt, dass ein Missbrauch stattfindet. Ich kann Ihnen aber sagen, wo es Missbrauch gibt. Lesen Sie vielleicht einmal den Bericht des Rechnungshofes. Wenn Sie ihn lesen, dann stellen Sie fest, dass dort steht: Bei fast einem Viertel der geprüften Maßnahmen mit Arbeitsgelegenheiten lagen die Förderungsvoraussetzungen nicht vor. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Haben Sie ihn auch so intensiv gelesen wie den Gesetzentwurf?) Bei weiteren knapp 50 Prozent der geprüften Fälle hatten die Grundsicherungsstellen keine verlässlichen Kenntnisse über die Inhalte der Maßnahmen, sodass auch hier Zweifel an der Förderungsfähigkeit bestanden. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie Kontrolleure einsetzen wollen, dann schicken Sie sie an die Arbeitsplätze der Arbeitslosengeld-I-Bezieher. Dort und nicht bei diesen Leuten hier wird beschissen und betrogen. Das ist die Realität. (Beifall bei der LINKEN) Wir fordern aus diesem Grunde, dass die Aufnahme von 1-Euro-Jobs für Arbeitslosengeld-II-Bezieher freiwillig ist. Wir wollen in dieser Frage keinen Zwang, weil wir wissen, dass geschummelt wird und tatsächlich Kontrolleure notwendig wären. Künftig sollen Menschen, die länger als ein Jahr mit einem Arbeitslosengeld-II-Bezieher zusammenwohnen, beweisen, dass sie nicht bereit sind, Verantwortung für den anderen, der mit ihnen zusammen lebt, zu übernehmen. Das ist Ihre Umkehr der Beweislast. Das ist Ihre Aufforderung zur Entsolidarisierung. Sie wollen, dass der, der für den anderen einsteht, von einem Kontrolleur besucht wird. Sie wollen letztendlich, dass die Menschen in diesem Land nicht mehr solidarisch sind, sondern sich anderen gegenüber zum Schwein entwickeln. Das wollen wir nicht, meine Damen und Herren. Deshalb lehnen wir Ihr Gesetz ab. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: Unerträglich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lieber Kollege Ernst, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nahles zulassen? Klaus Ernst (DIE LINKE): Ja, gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Andrea Nahles (SPD): Herr Ernst, ich möchte Sie fragen, ob Ihnen aufgefallen ist, dass das, was Sie da gerade argumentativ vorgetragen haben, in sich völlig unlogisch ist, (Lachen bei der LINKEN) weil wir gerade durch die Beweislastumkehr die von Ihnen nicht ganz zu Unrecht kritisierten so genannten Schnüffelaktionen verhindern werden. (Widerspruch bei der LINKEN) Ist Ihnen das schon aufgefallen? Es wird zum ersten Mal eine bundeseinheitliche Regelung aufgelegt, wonach nicht mehr jede Arge vor Ort und nicht mehr jeder einzelne Arbeitsvermittler einfach entscheidet, wie das gehandhabt wird, sondern auf der Basis von gerichtlichen Kriterien entschieden wird, ob eine Bedarfsgemeinschaft vermutet wird. Diese Vermutung kann dann in einem normalen Widerspruchsverfahren - bis hin zu einem Sozialgerichtsverfahren - widerlegt werden. (Zurufe von der LINKEN) - Entschuldigung, krakeelen Sie bitte nicht so. - Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es sich hier um eine Verbesserung der Rechtslage für die Betroffenen handelt und nicht um eine Verschlechterung. (Beifall bei der SPD) Klaus Ernst (DIE LINKE): Liebe Kollegin Nahles, über diese Frage freue ich mich sehr. Sie gibt mir nämlich Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass wir im deutschen Strafrecht die Umkehr der Beweislast insbesondere bei der organisierten Kriminalität haben. (Zuruf von der SPD: Oh! Nebelkerzen!) Genau diese Umkehr der Beweislast führen Sie bei den Arbeitslosengeld-II-Empfängern ein. Diese Umkehr der Beweislast führt dazu, dass jemand, der mit einem anderen in einer Wohngemeinschaft lebt, künftig nachweisen muss, dass er nicht für ihn einsteht und sich nicht solidarisch mit ihm verhält. Das führt dazu, dass Leute in solchen Gemeinschaften künftig ausziehen werden müssen, wenn in ihrer Gemeinschaft ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger wohnt. Das ist Ihre Politik und das ist Unfug, Frau Nahles. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf einen Punkt hinweisen, der mir sehr wichtig ist. Ihre ganze Begründung stellt unter anderem darauf ab, dass der Abstand zwischen Arbeitslosengeld II und Arbeitseinkommen zu gering wäre. Wissen Sie, was ich Ihnen dazu sage? Wir haben das Problem, dass wir Löhne haben, die so gering geworden sind, dass man von diesen Löhnen nicht mehr leben kann. Das müssen wir ändern und nicht auf die Arbeitslosengeld-II-Bezieher einprügeln, sie kriminalisieren und ihnen das Geld wegnehmen. Wir müssen für vernünftige Löhne in diesem Land sorgen, dann stimmt auch der Abstand wieder. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf zu? Klaus Ernst (DIE LINKE): Ich bin bereit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön, Herr Kollege. Anton Schaaf (SPD): Herr Kollege Ernst, würden Sie mir Recht geben - nur diese eine Frage möchte ich beantwortet haben -, dass für die Frage der Löhne in diesem Lande in erster Linie die Tarifparteien, insbesondere auch unsere Gewerkschaften, zuständig sind und nicht die Politik? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Klaus Ernst (DIE LINKE): Selbstverständlich. Ich weise aber darauf hin, Herr Kollege, dass es aufgrund der Tatsache, dass auch unter den Gewerkschaftsmitgliedern die große Befürchtung besteht, dass das Arbeitslosengeld II zu zunehmender Arbeitslosigkeit führen wird, für die Gewerkschaften zunehmend schwieriger geworden ist, vernünftige Löhne durchzusetzen. Das müssten Sie als Gewerkschaftsfunktionär auch gemerkt haben. (Beifall bei der LINKEN) Insbesondere die Residenzpflicht führt dazu, dass Arbeitslosen eine Fußfessel angelegt wird. (Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] bringt dem Redner eine Fußfessel zum Pult - Beifall bei der LINKEN - Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ CSU]: Ist die aus dem Stasiarchiv?) Sie müssen um Erlaubnis fragen, wenn sie ihren Wohnraum verlassen wollen. Das können Sie sich sicherlich nicht vorstellen. Damit Sie sich das vorstellen können, werde ich nun diese Fußfessel auf der Regierungsbank abstellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich muss Sie darauf hinweisen, dass erstens Ihre Redezeit abgelaufen ist und dass wir zweitens hier keine Demonstration veranstalten. Ich bitte Sie sehr, das Gerät wieder mitzunehmen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Iris Gleicke [SPD]: Auf dem Rücken der Menschen ein solches Schmierentheater zu veranstalten! - Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] bringt die Fußfessel zur Regierungsbank) Herr Kollege Ernst, ich erteile Ihnen hiermit einen Ordnungsruf. Dieses Verhalten hat nichts mit der Würde des Hauses zu tun. Insofern müssen Sie das bitte zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben 40 Jahre lang die Leute eingemauert und spielen sich hier auf! Das ist unglaublich! - Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Welcher Stasioffizier hat Ihnen das Ding ausgeliehen?)