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Begleitung oder Vertretung?

Rede von Ilja Seifert,

Rede von Dr. Ilja Seifert am 01.03. 2013 , TOP 40

Zum Entschließungsantrag „Personenzentrierte und ganzheitliche Reform des Betreuungsrechts“ der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs.17/12539

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!

Beim Betreuungsrecht geht es darum, wer ganz am Ende das Sagen hat: der Helfer oder derjenige, dem geholfen werden soll? Momentan ist es so, dass der Helfer das Sagen hat, also vormundschaftlich. Auf Treu und Glauben oder gemeinsam auf Augenhöhe? Das ist die Frage im Betreuungsrecht.
(Beifall bei der LINKEN)


Es geht, so gesehen, um Sein oder Nichtsein der UN-Behindertenrechtskonvention; die Art. 12 bis 14 sind vom Kollegen Kurth schon genannt worden.
Es geht um 1,3 Millionen betroffene Menschen in Deutschland, um eine Steigerungsrate an Betreuungsfällen von 110 Prozent innerhalb von 15 Jahren, um rasant wachsende Betreuungszahlen unter Jugendlichen und um zunehmende Beschwerden über die Betreuerinnen und Betreuer. Deshalb begrüßen wir euren Entschließungsantrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Er stellt die regierungsamtliche Selbstge-fälligkeit öffentlich auf den Prüfstand. Zitat: Das deutsche Betreuungsrecht gilt als eines der modernsten Rechtsinstrumente dieser Art in Europa.


Das ist heute schon mehrfach gesagt worden. Das stimmt, das mag ja sein. Aber es ist noch längst nicht auf dem Stand der UN-Behindertenrechtskonvention.
Mit der Abschaffung der Vormundschaft, so heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf die vorliegende Große Anfrage, sei die Regierung schon lange einen Weg gegangen, auf dem jetzt die internationale Staatengemeinschaft folgen wolle. Bedauerlicherweise ist das Vormundschaftsrecht nicht abgeschafft, sondern nur abgemildert worden.
Liest man die Antworten genauer, so zeigt sich, dass die Worte „Vertretung“ und „Unterstützung“ synonym verwendet werden, als läge in dieser Unterscheidung nicht gerade ein Großteil des Problems.
(Beifall bei der LINKEN)

Wer vertreten wird, ist Objekt. Als Subjekt wird der Mensch unterstützt, nicht aber vertreten.
Fragen Sie doch einmal die Angehörigen sterbender Eltern, die, mit ihrer Betreuungsvollmacht in der Hand, entscheiden sollen, ob ihre Väter oder Mütter am Bett fixiert werden dürfen oder nicht. Sie wissen nicht, ob sie für ihre Eltern entscheiden. Sie wissen aber, dass sie über ihre Eltern entscheiden, und quälen damit sich selbst und die Eltern.

Oder ein nicht weniger krasses Beispiel: Ein Mensch mit Behinderung, der dem Betreuungsrecht unterworfen ist, darf nicht einmal selbst entscheiden, ob sie oder er Mitglied eines Behindertenverbandes werden oder bleiben darf. Wenn dem Betreuer die 4 Euro Mitgliedsbeitrag zu viel sind, bestimmt er vormundschaftlich, also endgültig, dass die Mitgliedschaft in der eigenen Interessen- oder Selbsthilfeorganisation unnötig sei. Das ist Vormundschaftlichkeit und kein modernes assistierendes Betreuungsrecht.

Mir scheint allerdings, der Entschließungsantrag bleibt in einer grundlegenden Frage der Regierungslogik verhaftet, wenn er die Betreuung und Assistenz weiterhin gleichwertig nebeneinanderstehen lässt. Reicht es wirklich, nach Modellen rechtlicher Assistenz zu fragen? Wir, die Linke, wollen ein Recht, das assistierende Begleitung in den Mittelpunkt stellt und regelt und die vormundschaftlichen Betreuungsmaßnahmen wirklich ausschließt. Weniger Sanktionen, mehr rechtliche und soziale Bildung. Darüber sind wir alle uns offensichtlich einig. Diese Forderung des Entschließungsantrags unterstützen wir ausdrücklich. Wir meinen damit nicht nur die Assistentinnen und Assistenten; auch Staatsanwälte, Richter, Behörden und Sozialarbeiter gehören dazu.

Wir meinen aber auch, dass es dazu gehört, eine menschenrechtliche Grundlage zu bilden, das Recht zu vereinfachen sowie Beratungsstrukturen flächendeckend und kostenfrei bereitzustellen. Angehörige und nahe Freunde brauchen mehr Ressourcen, um flexibler begleiten zu können. Dazu gehören auch Lohnausgleich und Supervision, wann immer das erforderlich ist.

Die Linke forderte schon bei der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, das Betreuungsrecht erheblich zu ändern und von der Vormundschaft zu befreien. Betreut oder begleitet, vertreten oder unterstützt – das ist ein grundlegender Unterschied in der Verfasstheit eines Lebens.
(Beifall bei der LINKEN)

Hier steht nicht nur unser Menschenbild, sondern auch unser Freiheitsverständnis auf dem Prüfstand. Es geht um Partizipation und Emanzipation. Es geht darum, uns selbst ernst zu nehmen, jede und jeden, jeden Tag.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)