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Aufholprozess Ost ist in ein heftiges Stocken geraten

Rede von Lothar Bisky,

"Erste Rede von Herrn Prof. Dr. Lothar Bisky im Deutschen Bundestag zur Unterrichtung der Bundesregierung "Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2005": Der Aufholprozess Ost ist in heftiges Stocken geraten. Die Schere zwischen Ost und West wird wieder größer. Das hat u.a. zum Problem der massenhaften Abwanderung der jungen, leistungsstarken Menschen aus dem Osten geführt. Aus dem Bericht geht nicht hervor, wie die Bundesregierung dieses Problem lösen will."

"Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bertolt Brechts "Kinderhymne" beginnt mit den Zeilen: Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, Dass ein gutes Deutschland blühe, Wie ein andres gutes Land. Das scheint mir immer noch aktuell zu sein, und zwar nicht nur für einen Teil des Landes. (Beifall bei der LINKEN) Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit behandelt aber leider nur den Aufbau Ost. Überdies liest sich der Bericht wie eine unendliche Geschichte vom „Nachbau West“. Wie sonst ist es zu erklären, dass die ostdeutschen Verbände in dem Bericht gar nicht erwähnt werden? Der Arbeitslosenverband, die Volkssolidarität und das Kuratorium ostdeutscher Verbände kommen mit ihren Erfahrungen und Vorschlägen aus 15 Jahren deutscher Einheit nicht vor. Ich habe in Ihrer bemerkenswert sachlichen Rede, Herr Minister, (Zuruf von der SPD: Er ist immer sachlich!) den Hinweis auf Verbände und Vereine zur Kenntnis genommen und bin guter Hoffnung, dass diese Verbände im nächsten Jahr berücksichtigt werden. Man muss zwar nicht auf alles eingehen, aber erwähnen sollte man sie schon. Vieles im Zusammenhang mit Ostdeutschland nach der Wende ist positiv hervorzuheben, zum Beispiel die individuellen politischen Freiheiten, die Entwicklung der technischen und medialen Infrastruktur und die Weltoffenheit. Bei allem Vorwärtsschauen dürfen aber die vorhandenen Probleme nicht verschwiegen werden. Der Aufholprozess Ost ist - Ihre eigenen Zahlen belegen das nachdrücklich - in ein heftiges Stocken geraten. Die Schere zwischen Ost und West wird nicht weiter geschlossen. Im Gegenteil: Sie öffnet sich wieder. Das hat zu dem Problem der massenhaften Abwanderung der jungen, leistungsstarken Menschen aus dem Osten geführt. Aus dem Bericht geht nicht hervor, wie Sie dieses Problem lösen wollen. Er geht zwar auf die alte Bundesregierung zurück, aber auch von der neuen Regierung sind noch keine substanziellen Vorschläge dazu erfolgt. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Peter Danckert (SPD): Machen Sie doch mal einen Vorschlag, Herr Bisky!) Im Gegenteil: Gestern hat der Kollege Ramsauer von der CSU vorgeschlagen, die Mittel für regionale Wirtschaftshilfen auch im Osten zu kürzen. Das ist Ihre Politik. Wir halten sie für falsch. (Beifall bei der LINKEN) Sicher, der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen enthält manch richtigen Vorschlag, (Iris Gleicke (SPD): Aha!) wie zum Beispiel den, einen Schwerpunkt auf Bildung und Ausbildung zu legen. Aber warum so zaghaft? Eine „einvernehmliche Lösung bei der Bereitstellung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen“, wie Sie es als Bitte an die Bundesregierung formulieren, wird ein weiteres Mal viele junge Menschen im Regen stehen lassen. Haben Sie doch den Mut, endlich eine Ausbildungsplatzumlage einzuführen! (Beifall bei der LINKEN) Die Zauberformel zum Stopp der Abwanderung junger Leute aus dem Osten Deutschlands haben auch wir von der Linken nicht. (Dr. Peter Danckert (SPD): Aha!) Aber wir wissen: Junge Menschen brauchen eine Perspektive und wer eine Familie gründen will, der braucht die Gewissheit, sie ernähren zu können. Genau deshalb brauchen wir eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die diesen Namen auch verdient. Die Arbeitslosigkeit ist das zentrale Problem in Deutschland, in Hessen und in Rheinland-Pfalz genauso wie in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Aber im Osten Deutschlands gibt es mit fast 20 Prozent mehr als doppelt so viele Arbeitslose wie im Westen. Die Jobs, die es gibt, sind so schlecht bezahlt, dass es zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. (Beifall bei der LINKEN - Iris Gleicke (SPD): Diese pauschale Aussage stimmt so auch nicht!) Deshalb werden wir morgen einen Antrag auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einbringen. Die politische Verantwortung für gleichwertige Lebensverhältnisse gehört in den Mittelpunkt der bundespolitischen Aufgaben. Die Probleme der Vereinigung Deutschlands müssen als soziale Fragen des ganzen Landes behandelt und gelöst werden, in Frankfurt am Main wie in Frankfurt an der Oder. Deshalb habe ich absolut kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung in ihrem Bericht an der Agenda 2010 festhält. Arbeitsvermittlung wird dort nicht besser, wo keine Arbeitsplätze sind. (Beifall bei der LINKEN) Die Agenda 2010 hat sich in Ostdeutschland als das erwiesen, was sie in strukturschwachen Regionen nur sein kann: ein Entvölkerungsprogramm, eine Enteignung derjenigen, die in Umschulungen und Arbeitsfördermaßnahmen eine rasante Deindustrialisierung erlebt haben. Etlichen droht nun mit Hartz IV und der Rente ab 67 tatsächlich Altersarmut. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber hier doch nicht!) Darüber können wir nicht einfach hinweggehen, wie es der Jahresbericht glauben machen will, und so tun, als wäre alles gut. Nein, das ist nicht gut. Das muss verändert werden. (Beifall bei der LINKEN) Zumindest haben Sie sich endlich dazu durchringen können, den Langzeitarbeitslosen im Osten Deutschlands 14 Euro mehr beim Arbeitslosengeld II zu zahlen. Wie aber sind Sie nur auf die absurde Idee gekommen, im Gegenzug das Arbeitslosengeld II für die jungen Leute zu kürzen und sie obendrein zu entmündigen und somit junge Erwachsene zweiter und dritter Klasse zu schaffen? Dazu sagen wir eindeutig Nein. (Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund (CDU/CSU): So viel Sozialismus gab es noch nicht einmal in der DDR!) Ich beglückwünsche Sie dann zum 40. Jahrestag dieses Arguments. Dieser wird bald kommen, Herr Vaatz. (Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Er hat doch nichts gesagt!) Es geht in Ostdeutschland um die Stabilisierung der wirtschaftlichen und der sozialen Lage. Dazu hat Die Linke Vorschläge gemacht, die in unserem Entschließungsantrag nachzulesen sind. Sie treffen sich in vielen Punkten mit dem, was die Dohnanyi-Kommission unterbreitet hat. Zu unseren Vorschlägen gehört selbstverständlich auch, die Kompetenzen und Leistungen der Ostdeutschen endlich und umfassend zu achten und diese Potenziale aktiv zu nutzen. (Beifall bei der LINKEN) In den Debatten über die deutsche Einheit spielen die gewaltigen Transferleistungen immer wieder eine herausragende Rolle. Sie haben in der Tat eine entscheidende Bedeutung. Ich will das ausdrücklich würdigen. Ich wiederhole: Ich will das ausdrücklich würdigen. (Dr. Peter Danckert (SPD): Herzlichen Glückwunsch!) Doch muss immer wieder daran erinnert werden - Herr Kollege Günther von der FDP hat es dankenswerter Weise gemacht -, dass auch im Osten Solidaritätszuschläge gezahlt werden. Man muss auch daran erinnern, dass die Verschwendung von Transferleistungen für sinnlose Großprojekte nur selten allein in ostdeutschen Planungsbüros ausgetüftelt worden sind. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Partei hat sich im Übrigen immer dafür eingesetzt, die Transfergelder statt für fragwürdige Großprojekte auch für den Mittelstand und für kleine Unternehmen einzusetzen, weil dann Arbeitsplätze entstehen. Nie zuvor habe ich von Vertretern aller Parteien Beispiele aus der DDR so oft positiv erwähnt gefunden wie im vergangenen Jahr. Sie, Herr Ministerpräsident Böhmer, haben an die Kredite für junge Familien erinnert. Zwölf Jahre bis zum Abitur sind in einigen Bundesländern schon Realität und die Poliklinik erlebt zu Recht eine Renaissance, (Beifall bei der LINKEN) wenn sie in Ihrem Bericht auch als medizinisches Versorgungszentrum erscheint. Der Name ist nicht wichtig. Wir sind uns mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, einig, dass die deutsche Einheit eine Aufgabe Gesamtdeutschlands ist. Ihre Forderung, die Bundesregierung möge ein Gesamtkonzept für den Aufbau Ost entwickeln, unterstützen wir. Darum haben wir in unserem Entschließungsantrag unseren Vorschlag erneuert, einen speziellen Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und anderer strukturschwacher Regionen einzusetzen. Da können wir dann über alles reden. Das, was wir allerdings entschieden ablehnen, ist Ihre Idee von den größeren Modellregionen für Deregulierung. (Beifall bei der LINKEN) Das Tarif- und Arbeitsrecht zu schleifen, wird keinen einzigen Arbeitsplatz bringen. Das haben wir in 15 Jahren niedrigerer Löhne im Osten wohl hinreichend gründlich erfahren dürfen. (Beifall bei der LINKEN) Mich freut es, wenn Sie, wie im Bericht zu lesen ist, mehr Ganztagsangebote in Kitas und Schulen als Plus für die Bildung erkannt haben. Besser eine späte Einsicht als gar keine. Überhaupt sollten wir die Bildungspolitik genauso ernst wie die Wirtschaftspolitik nehmen. Lassen Sie mich deshalb abschließend einen Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren. Er schrieb im Jahr 2005: Alle halten Bildung für wichtig, und alle haben sich daran gewöhnt, weniger dafür zu zahlen, als notwendig und vernünftig wäre. - Ende des Zitats und Ende meiner Redezeit. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Bisky, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen und wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. (Beifall)"