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Armut grenzt aus und verbaut den Weg zur Bildung.

Rede von Petra Sitte,

Meine Damen und Herren!

Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Koalitionsvereinbarung beginnen: Deutschlands Zukunft liegt in den Köpfen seiner Menschen. Bildung ist ein zentrales Anliegen, das eine große Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen erfordert. Bildung ist Voraussetzung zur gesellschaftlichen Teilhabe. Bildung ist ein Schlüsselthema für die weitere Entwicklung unserer Wirtschaft und unseres Landes. Alles in allem handelt es sich in zweierlei Hinsicht um bemerkenswerte Sätze, erstens der Absender wegen und zweitens ihres Inhaltes wegen. Ich will etwas zu den Absendern sagen.

CDU/CSU und SPD tragen seit Jahrzehnten auf verschiedene Weise in verschiedenen Koalitionen auf den Ebenen der Kommunen, der Länder und auf Bundesebene Bildungsverantwortung für ganze Generationen. Die Ergebnisse sind bekannt. Ich zitiere jetzt nicht die PISA-Studie, obwohl das allemal verlockend ist. Ich verweise vielmehr auf eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die vor kurzem unter dem Titel „Zu wenig für zu viele“ veröffentlicht worden ist. Die Kernaussage in dieser Studie ist: Armut grenzt aus und verbaut den Weg zur Bildung. Was steht in der Koalitionsvereinbarung?

Sie schauen von oben auf das Bildungswesen: strukturell, finanziell, institutionell und personell. Das ist zwar alles in Ordnung. Aber Sie schauen vor allem punktuell auf das Bildungswesen. Aus dieser punktuellen Sicht heraus gehen Ihnen ganz wesentliche Zusammenhänge verloren bzw. sie finden sich nicht in den vorgeschlagenen Maßnahmen wieder. Ursache und Wirkung zeigt aber die Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Er schaut wiederum von ganz unten nach oben.

In diesem Zusammenhang ist eben festzustellen, dass seit Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005 beispielsweise in meiner Heimatregion Halle die Kinderarmut drastisch gewachsen ist. 34,6 Prozent - ich betone: 34,6 Prozent - aller Kinder unter 14 Jahren leben von 207 Euro Sozialgeld monatlich. Von diesen 207 Euro monatlich sind die wichtigsten Dinge für ein Kind zu bestreiten: Schulutensilien, Kleidung, Bücher und vielleicht noch der Beitrag für den Sportverein. Das bedeutet doch am Ende, dass in den Familien die Kinder selbst zu kurz kommen.

Schauen Sie sich einmal an, was aufgrund der Beschlussfassungen der Länder passiert - denn Sie haben ja die Verantwortung der Länder angemahnt -: Da wird eben ab der elften Klasse keine Schülerbeförderung mehr bezahlt. Da müssen von diesen 207 Euro im schlimmsten Falle 70 Euro für die Schülerbeförderung ausgegeben werden, und das monatlich für jedes Kind. Sie wissen, wie wichtig die Schülerbeförderung im ländlichen Raum ist. Sozialpädagogen konstatieren in diesem Zusammenhang: Kinder leiden unter psychosomatischen Störungen, klagen über Kopfschmerzen, leiden unter Schlafstörungen oder haben Angstzustände. Was ich ganz schlimm finde: Die Gewalt in den Familien selbst nimmt zu.

(Cornelia Pieper [FDP]: Zum Thema!)

- Frau Pieper, Ihr Problem ist, dass Sie nicht glauben, dass das mit dem Thema zu tun hat.

(Beifall bei der LINKEN - Cornelia Pieper [FDP]: Hauptsache, Sie glauben daran!)

Armut macht schwach. Armut macht krank. Armut nimmt Mut, vor allem den Mut auf einen selbst bestimmten Lebensweg. Armut begrenzt Freiheit. Wenn Sie vor diesem Hintergrund in diesem Haus davon sprechen, Freiheit wagen zu wollen, kann ich aus dieser konkreten Erfahrung heraus nur feststellen: Da haben Sie ein Problem mit der Verarbeitung der Realität.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Karl Addicks [FDP]: Damit haben Sie Probleme!)

Es zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Armut in früher Kindheit, Armutsdauer und künftiger Schullaufbahn. Auf dem Gymnasium hat nur jedes elfte Kind Armutserfahrungen, auf der Realschule allerdings schon jedes dritte. Auf der Hauptschule hat jedes zweite Kind Armutserfahrungen. Die Agenda 2010 und Hartz IV, also das Umschwenken vom status- zum höchstens noch existenzsichernden Sozialstaat, hat Kinderarmut in Ost und West in nie gekanntem Ausmaß mit sich gebracht, und das in einem der reichsten Länder dieser Erde.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb, Frau Pieper, sage ich: Wer über das Bildungssystem dieses Landes redet, muss auch über das Sozialsystem dieses Landes sprechen. Beides ist nicht mehr voneinander zu trennen.

(Beifall bei der LINKEN - Cornelia Pieper [FDP]: Das stimmt! Da haben Sie Recht! Jetzt kommen Sie einmal zur Sache!)

Wenn die Kinder dieses Landes mehr Bildungserfolge haben sollen, dann brauchen sie einen anderen, einen sichereren sozialen Hintergrund. Damit die Kinder eine erfolgreiche soziale Perspektive vor sich haben, brauchen sie einen anderen Bildungshintergrund; ansonsten - das ist ganz klar - wird die Ursache wiederum zur Folge. Das ist der entscheidende Zusammenhang, den ich in der Koalitionsvereinbarung vermisse. Ungelöste soziale Probleme können dann dazu führen, dass die positiven Maßnahmen, die sich in der Koalitionsvereinbarung in allen Bereichen des Bildungswesens allemal wiederfinden, völlig konterkariert werden. Das anzugehen, denke ich, ist Aufgabe genug. Es geht also nicht nur um die Qualifizierung des Bildungssystems im weitesten Sinne, eingeschlossen die Forschung.

Es geht nicht nur um eine schlüssige Reformierung des gesamten Bildungswesens, um eine Reform der Bildungsfinanzierung sozusagen. Es geht nicht nur um die Anerkennung von Bildungsausgaben als das, was sie nämlich wirklich sind: Investitionen in die sich immer wieder erneuernde Ressource Wissen. Es geht schlicht und ergreifend darum, dafür zu sorgen, dass die Potenziale von Kindern, und zwar die von hoch begabten Kindern genauso wie die von Kindern aus benachteiligten Haushalten, erkannt und ihnen gemäß gefördert werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will an dieser Stelle eines hinzufügen: Es ist völlig paradox, in dieser Situation über die Erhebung von Studiengebühren zu reden und zur gleichen Zeit nichts dagegen zu tun, dass Kinder aus solchen Elternhäusern, wie ich sie vorhin beschrieben habe, real so gut wie keine Chance haben, in universitärer Bildung anzukommen. Darum geht es doch. Das Problem ist doch nicht, ob es ungerecht ist, dass die Krankenschwester mit ihren Steuern dem Arztsohn das Studium bezahlt. Der Arzt seinerseits zahlt ja höhere Steuern; das wird meistens vergessen. Das Problem ist, dass die Kinder der Schwester allemal schlechtere Chancen haben als die Kinder der Ärzte, auf der Universität anzukommen.

(Cornelia Pieper [FDP]: Wo findet das denn statt? Das stimmt doch gar nicht!)

Selbst wenn die Kinder der Schwester über die gleiche Leistungsfähigkeit verfügen, ist die Chance des Arztsohnes - das belegt eine Studie des Wohlfahrtsverbandes - sechsmal höher, eine universitäre Bildung zu erhalten, als die der Kinder der Schwester.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nicht in Brandenburg! - Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: In Bayern!)

Natürlich ist jede Verbesserung im Bildungswesen zu begrüßen. Da werden Sie uns an Ihrer Seite haben, so schrecklich Ihnen - insbesondere den Kollegen der CSU - das vielleicht erscheinen mag. Aber wenn wir insgesamt nicht nachhaltig sozial umsteuern, werden viele Bemühungen vergeblich bleiben, werden wir zivilisatorischen Rückschritt einleiten und werden uns Stück für Stück die Fundamente dieser Gesellschaft zerbröseln. Dagegen muss man endlich Politik machen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN)