"Rede von Oskar Lafontaine (DIE LINKE.) zur Aktuellen Stunde "Haltung der Bundesregierung zu den sozialen Auswirkungen der Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters"."
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat beschlossen, das Renteneintrittsalter anzuheben. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellen sich die Frage, welches Ansinnen die Bundesrepublik damit verfolgt und ob die Bundesregierung noch weiß, was in Wirklichkeit im Land passiert. (Beifall bei der LINKEN) Während die Bundesregierung beschließt, das Renteneintrittsalter anzuheben, werden immer mehr ältere Arbeitnehmer arbeitslos und finden keine neue Beschäftigung. Daraus schließen sie logischerweise, dass dies kein Beschluss ist, das Renteneintrittsalter anzuheben, sondern lediglich ein Beschluss ist, die Renten zu kürzen. (Beifall bei der LINKEN) Dieser steht im Gegensatz zu all dem, was die großen Koalitionäre den Wählerinnen und Wählern im Wahlkampf versprochen haben. Es ist eine schlimme Entwicklung, dass nach den Wahlen immer wieder völlig andere Entscheidungen getroffen werden als die, die vor den Wahlen angekündigt worden sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Sie setzen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dieser Entscheidung einer doppelten Angst aus. Zunächst einmal sind sie mit der Tatsache konfrontiert, dass sie, wenn sie arbeitslos werden, nur noch zwölf Monate lang Arbeitslosengeld bekommen und dann auf Hartz IV zurückfallen. Diese unglaubliche Enteignung der Arbeitnehmerschaft, insbesondere der älteren Arbeitnehmerschaft, ist bis zum heutigen Tage nicht zurückgenommen. Abgesehen davon, dass Arbeitnehmer, wenn sie älter geworden sind, keinen Arbeitsplatz mehr bekommen, konfrontieren Sie sie jetzt auch noch mit der Tatsache, dass sie aber gleichzeitig qua Gesetz länger arbeiten sollen, was kräftige Abschläge bei den Renten zur Folge hat. Diese Entwicklung haben wir uns nicht so vorgestellt, Ihre Wählerinnen und Wähler auch nicht. (Beifall bei der LINKEN) Hier offenbart sich ein fundamental anderes Verständnis von Freiheit im Vergleich zu dem, was die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung vorgetragen hat. Sie wandelte das Wort Willy Brandts „Lasst uns mehr Demokratie wagen“ in „Lasst uns mehr Freiheit wagen“ um. Aber Freiheit von Kündigungsschutz, Freiheit von Tarifverträgen, Freiheit von sozialer Sicherheit - das ist nicht die Freiheit, die wir wollen. Wir wollen eine Freiheit von Existenzangst und sozialer Not. (Beifall bei der LINKEN) Willy Brandts Verständnis von Demokratie verband sich nicht mit dem erstgenannten Freiheitsbegriff, sondern mit einem Freiheitsbegriff, der besagt, dass die Menschen von sozialer Not und von Existenzangst befreit werden sollen. Denn nur dann können sie frei sein und ihr Leben selbst gestalten. (Beifall bei der LINKEN) Die Entscheidung, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, ist auch deshalb falsch, weil Sie von Voraussetzungen ausgehen, die nicht haltbar sind. Über die Entwicklung der Rente entscheidet nicht die Zahl der Kinder und der Älteren, auch wenn das pausenlos immer wieder verkündet wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Selbstverständlich!) Über die Entwicklung der Rente entscheidet in erster Linie die Produktivität einer Volkswirtschaft. (Beifall bei der LINKEN) Ihre ganze Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet, dass Sie dieser Schlüsselgröße nicht den Stellenwert beimessen, der ihr zukommen sollte. Ich erläutere das am Beispiel der Landwirtschaft. Früher, vor 100 Jahren, hat der Landwirt sich selbst ernähren können. Es mussten alle mitarbeiten: die Älteren, so lange sie konnten, und die Kinder. 50 Jahre später stieg die Produktivität so stark an, dass die Älteren den Lebensabend genießen und die Kinder zu Schule gehen konnten. Heute kann ein Landwirt Hunderte andere Menschen ernähren. In dieser Zeit kommen Sie mit einem schwarz-roten Schal und sagen: Du musst wieder länger arbeiten, wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig und deine Rente ist nicht mehr gesichert. - Das ist ein fundamentales Missverständnis von Produktivitätsentwicklung und Reichtumsverteilung in unserer Volkswirtschaft. (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU) Dieses fundamentale Missverständnis haben Sie auch auf die Entwicklung der Löhne übertragen, die in Deutschland so katastrophal wie in keinem anderen Industriestaat verlaufen ist. Man kann es nicht oft genug sagen: Während die Reallöhne in mit Deutschland konkurrierenden Staaten in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent, teilweise sogar um 25 Prozent, gestiegen sind, ist bei uns seit über zehn Jahren aufgrund einer völlig verfehlten Politik eine Stagnation der Reallöhne zu verzeichnen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnten viel freier über die Rentenentwicklung diskutieren, wenn sich die Einkommen auch bei uns so wie in den anderen Industriestaaten entwickelt hätten. Das ist der zweite Fehler, den Sie gemacht haben. (Beifall bei der LINKEN) Der dritte Fehler betrifft die Entwicklung der Arbeitszeit. Auch darüber entscheidet die Produktivität einer Volkswirtschaft. Ich muss Ihnen schon sagen: Wer auf einen Anstieg der Produktivität mit einer Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit antwortet, ist schlicht schwachsinnig. (Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wie bitte? Was sind Sie denn dann?) Ich muss dieses Wort in aller Klarheit gebrauchen. Denn die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den Ländern haben Recht, wenn sie sagen, dass die Forderung nach einer Verlängerung der Arbeitszeit nicht nachzuvollziehen ist. In unserem Land suchen 5 Millionen Menschen Arbeit. Aber die einzige Antwort, die Sie geben, ist, dass diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben - zum Beispiel im öffentlichen Dienst, der bekanntlich in gewaltiger internationaler Konkurrenz steht -, länger arbeiten müssen, (Dirk Niebel (FDP): Wer zahlt denn ihr Gehalt?) weil sonst unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit dahin ist. Das kann so nicht weitergehen; denn so ruiniert und zerstört man das Vertrauen des Volkes in die staatlichen Systeme und Organe. (Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Keine Ahnung, der Mann!) Mit Ihrer Sozialgesetzgebung haben Sie den entscheidenden Faktor unserer sozialen Sicherungssysteme beschädigt: die Zahl der Beitragszahler. Wer durch die eigene Gesetzgebung dazu beiträgt, dass immer mehr Minijobs und Ich-AGs entstehen, der reduziert die Zahl der Beitragszahler und ruiniert dadurch letztendlich unsere sozialen Sicherungssysteme. Es ist an der Zeit, dass Sie diese verhängnisvolle Arbeitsmarktpolitik aufgeben. (Beifall bei der LINKEN) Meine Schlussbemerkung: Es gibt ein Konzept, das für die Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme richtungweisend ist: die Bürgerversicherung bzw. Volksversicherung. Die Grundlage dieses Konzepts ist, dass in einer Gesellschaft, in der die Arbeitseinkommen eine immer geringere Bedeutung und die Vermögens- und Unternehmenseinkommen eine immer größere Bedeutung haben, alle Einkommensarten zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme herangezogen werden, sodass sich der gut verdienende Teil unseres Volkes nicht aus der Solidarität verabschieden kann. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Lafontaine, Sie müssen nun tatsächlich zum Schluss kommen. Ja. - Man kann zwar versuchen, auf Dauer gegen die Mehrheit des Volkes anzuregieren. Aber irgendwann merkt die Mehrheit das und dann wird sie entsprechend reagieren. Das Volk kann sich gegen diese Enteignung nur dadurch wehren, dass es Ihnen das Vertrauen entzieht. (Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Es lebe der Sozialismus!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass der Großzügigkeit des amtierenden Präsidenten hinsichtlich der Bewirtschaftung der Redezeit in Aktuellen Stunden engere Grenzen gesetzt sind als bei vereinbarten Debatten, weil in der von Ihnen allen gemeinsam beschlossenen Geschäftsordnung festgelegt ist, dass die Beiträge in einer Aktuellen Stunde nicht länger als fünf Minuten sein dürfen. Nun hat die Kollegin Ilse Falk das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU)
Anhebung des Renteneintrittsalters ist Rentenkürzung und Wahlbetrug
Rede
von
Oskar Lafontaine,