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Angst und Schuld

Rede von Wolfgang Neskovic,

Die Bundesregierung will nach Jugendstrafrecht verurteilte, als gefährlich eingestufte Straftäter auch nach Ablauf ihrer Haftstrafen in Verwahrung halten, um die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen. Doch ein weiterer Freiheitsentzug, nunmehr unter dem Etikett der Sicherung oder Besserung, läuft auch für Jugendliche auf eine Strafe für noch nicht begangene Taten hinaus. Deshalb muss es gerade für sie bei dem alten Grundsatz bleiben: Wenn die Haftzeit endet, dann bedeutet dies, dass die Schuld abgegolten ist.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren,

mit dem vorliegenden Entwurf bezweckt die Bundesregierung, besonders gefährliche, nach Jugendstrafrecht verurteilte Straftäter auch nach Ablauf ihrer Haftstrafen in Verwahrung zu halten, um die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen. Ich gehe davon aus, dass dieses Vorhaben in der Öffentlichkeit mehrheitlich auf Zustimmung treffen wird. Ich verstehe sehr gut, dass sich die Menschen nach Sicherheit und Schutz sehnen. Ich meine weiterhin, dass meine Fraktion keinen Blumentopf bei den Wählerinnen und Wählern gewinnen wird, wenn wir uns heute gegen diesen Entwurf aussprechen. Wir tun uns mit unserem Widerspruch also keinen Gefallen.
Es geht jedoch nicht darum, was gefällt - es geht darum, was richtig ist.
Richtig ist ein entscheidender Grundsatz des Strafrechts, der sich in der französischen Aufklärung herausgebildet hat, seine Fortentwicklung im deutschen Idealismus nahm und schließlich in das Preußische Allgemeine Landrecht und später in das deutsche Strafgesetzbuch Eingang fand. Dieser alte und wertvolle Grundsatz ist das Schuldprinzip.
Es ist die richtige Idee, dass die Strafe, also auch der Freiheitsentzug, seine Ursache in der Schuld des Täters haben muss. Wenn eine Haftzeit endet, dann bedeutet dies, dass eine Schuld abgegolten wurde.

Ein weiterer Freiheitsentzug unter den bisherigen Bedingungen, der nunmehr unter dem Etikett der Sicherung oder Besserung stattfindet, läuft auf eine Strafe für noch nicht begangene Taten hinaus.
Natürlich mag es in einem rechtstaatlichen Gemeinwesen niemand recht über die Lippen bringen, dass es in Ordnung sei, einen Menschen für Taten zu bestrafen, die er noch gar nicht begangen hat. Was daher sehr viel leichter über die Lippen geht und deshalb für die Begründung bevorzugt wird, ist das Wort von der Zweigleisigkeit des Strafrechtes. Demnach sei nur ein Gleis für schuldadäquate Strafe zuständig; auf dem zweiten Gleis der Maßregel hätte der Freiheitsentzug schon keinen Strafcharakter. Auf diesem sei vielmehr der Schutz der Allgemeinheit angesprochen oder die Besserung des Täters. Aber auf beiden Gleisen fährt ein Täter gleichermaßen in den Knast.

Für ihn macht es keinen Unterschied, wenn der identische Vollzug das eine Mal Strafe, das andere Mal Maßregel heißt. Er verbringt seine Gefangenschaft hinter denselben Gittern unter denselben täglichen Umständen. Er ist unschuldig - aber gefährlich. Doch die Abwehr von Gefahr ist gerade keine Aufgabe des Strafvollzuges.

Dieses ernste Begründungsdefizit sorgte vermutlich dafür, dass man mit der Sicherungsverwahrung in der Nachkriegszeit zunächst äußerst behutsam umging. Man beschränkte die Sicherungsverwahrung damals auf höchstens zehn Jahre für erheblich rückfallgefährdete Täter schwerster Straftaten nach der dritten Bestrafung. Es bestand auch kein Anlass, dieses Instrument weiter zu verschärfen, weil die Gewalttaten über einen Zeitraum von dreißig Jahren objektiv nicht zunahmen. Ich zitiere dazu aus dem gekürzten 2. Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung vom 15. November 2006. Auf Seite 9 heißt es:

„In den letzten drei Jahrzehnten hat, entgegen weit verbreiteter Meinung, weder die Opfergefährdung durch Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung noch durch Mord oder Totschlag zugenommen; dies gilt auch für Sexualmorde an Kinder.“

Ohne echte Not brachen jedoch in den späten 90er Jahren die rechtstaatlichen Dämme. Die Zehnjahresfrist wurde aufgehoben. Außerdem konnte die Sicherungsverwahrung nun bereits bei zweimaliger Tatbegehung angeordnet werden. 2002 konstruierte der Gesetzgeber dann eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung, die schon bei einer Erstverurteilung in Frage kam.

2004 schließlich eröffnete das Bundesverfassungsgericht sogar den Weg für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung, die ohne Vorbehalt noch nach Verbüßung der Strafe angeordnet werden konnte. Während die schwere Kriminalität zurückging, marschierte die Sicherungsverwahrung unaufhaltsam vorwärts. Was über viele Jahrzehnte einmal eine winzige, schwer zu begründende Ausnahme zum Schuldprinzip darstellte, rückte plötzlich in die Nähe einer Regel.

Wir sprechen heute über eine weitere Ausweitung auf die Gruppe der jugendlichen und heranwachsenden Straftäter - von denen völlig zu Recht angenommen wird, dass sie noch sehr stark formbar sind. Anders als erwachsene Straftäter haben sie erst eine sehr kurze Lebensphase der Prägung durchlebt, auf die sie zudem selbst kaum Einfluss hatten. Diese Tätergruppe wird straffällig, bevor sie ihr Leben überhaupt in die eigenen Hände nimmt. Sie tut anderen Gewalt an, quält andere, vergewaltigt und mordet, bevor es jemandem gelingt, ihnen Empathie nahezubringen oder eine Fühlung für den Wert des menschlichen Lebens.

Aber weil sie Menschen sind und weil sie jung sind, sagen wir von ihnen im Besonderen: "Die schreiben wir trotzdem nicht ab."
Ihre Haftzeit ist eine Erziehungszeit, die ihnen oft nicht etwa die Rückkehr in die Gesellschaft, sondern erstmalig einen Einzug in die Gesellschaft ermöglichen soll. Jeder einzelne von Ihnen, der nach Ablauf der Haft in die Freiheit entlassen wird, ist Träger von Chance und Risiko zugleich. Es besteht das Risiko, dass sich alte Verhaltensmuster wiederholen und Menschen wieder missachtet, gequält oder gar getötet werden. Es besteht jedoch auch die Chance, dass die Gemeinschaft einen Menschen zurückgewinnt, der seinen Mitmenschen mit Respekt und Verantwortung begegnet.

Der uns heute vorliegende Entwurf behandelt ebenfalls Chance und Risiko. Er trägt jedoch eine schlimme Tendenz in sich. Er sieht zu allererst das Risiko und vernachlässigt die Chancen. Eine freie Gesellschaft funktioniert umgekehrt. Sie erträgt eher Risiken, als dass sie sich von ihren Chancen trennt. Und schließlich: Wenn eine freie Gesellschaft nicht umhin kommt, Risiken zu bewerten und zur Grundlage der Gesetzgebung zu machen, dann lässt sie sich nur von Fakten, nicht von Ängsten leiten.
Ich zitiere deshalb noch einmal aus dem 2. Periodischen Bericht der Bundesregierung, diesmal aus der ungekürzten Fassung, S. 47:

„„Gefühlte“ Kriminalität, die maßgeblich auch durch die nicht immer sachgerechte Aufbereitung dieses Themas durch die in ihrer alltäglichen Bedeutung stetig wachsenden Massenmedien gespeist wird, kann auch kriminalpolitische Entscheidungen nachhaltig beeinflussen und deren Optionen begrenzen.“

Im Klartext wird hier zum Ausdruck gebracht: Weil die Medien Ängste weiter schüren, soll der Gesetzgeber weitere Gesetze machen. Überlegen Sie bitte sehr genau, ob Sie das überzeugend finden. Ich danke Ihnen.