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Am gesetzlichen Mindestlohn führt kein Weg vorbei

Rede von Werner Dreibus,

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!

Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen räumt die Bundesregierung immerhin ein, dass Armut trotz Arbeit in Deutschland ein gravierendes - ich betone: gravierendes - Problem ist und dass Politik endlich handeln muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist ein Fortschritt, den wir begrüßen, auch wenn er - das ist schon bitter - für die Menschen, die seit Jahren für Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro arbeiten müssen, viel zu spät kommt. Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen, lautet aber: Reicht das, was die Bundesregierung hier vorlegt, aus, um das Problem tatsächlich in den Griff zu bekommen?

Rund 6,5 Millionen Menschen verdienen in Vollzeitarbeit weniger als drei Viertel des durchschnittlichen Bruttoeinkommens. Das ist ein Viertel aller abhängig Beschäftigten, Tendenz steigend. Von diesen 6,5 Millionen Menschen verdienen rund 3,8 Millionen weniger als 50 Prozent des Durchschnittslohns, also weniger als 50 Prozent von 1 470 Euro im Monat. Wir sprechen, wie gesagt, über Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro. Das sind Armutslöhne. Von diesen Armutslöhnen sind in besonderer Weise, nämlich zu 70 bis 80 Prozent, Frauen betroffen. Die Folgen werden regelmäßig nicht nur von uns beklagt: sinkende Reallöhne, Nachfrageschwäche, sinkender Anteil der Erwerbseinkommen, wachsende Lücke zwischen niedrigen und hohen Einkommen, eine wachsende Zahl von Familien und Kindern in Armut usw.

Wir brauchen eine Untergrenze für Löhne, die gewährleistet, dass ein Lohn für Vollzeittätigkeit auch tatsächlich zum Leben reicht. Deshalb muss - egal, wie das Gesetz letztendlich heißt - an erster Stelle die Festlegung einer allgemeinen Lohnuntergrenze liegen, die sicherstellt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, davon tatsächlich auch leben können.

(Beifall bei der LINKEN)

In dieser Hinsicht sind leider die Gesetzentwürfe der Bundesregierung substanzlos. Die wesentliche Frage, die wir uns heute stellen und die sich Millionen Menschen stellen, wie hoch der Lohn sein sollte, wird in den beiden Gesetzentwürfen noch nicht einmal gestreift. Stattdessen konzentrieren Sie sich auf Verfahrensfragen; sie sind auch wichtig, kommen aber immer an zweiter Stelle. Vorschläge zum Verfahren können die fehlende Substanz nicht ersetzen.

Was soll nach den Vorstellungen der Koalition passieren? Sie wollen die untersten Tariflöhne zu Mindestlöhnen erklären. In vielen Bereichen ist dies nichts anderes als Etikettenschwindel. In Deutschland gibt es massenweise Tariflöhne von 3, 4 oder 5 Euro pro Stunde: im Einzelhandel, im Fleischerhandwerk, im Bewachungsgewerbe usw. Keinem Mann und keiner Frau - betroffen sind, wie gesagt, vor allen Dingen Frauen - wäre damit gedient, wenn wir als Gesetzgeber Tariflöhne von 3,50 Euro per Gesetz zu Mindestlöhnen erklärten. Im Gegenteil; dann bekäme Lohndumping auch noch den Segen des Gesetzgebers.
(Beifall bei der LINKEN)

An dieser Stelle eine Zwischenbemerkung. Gewerkschaften können dann gute Löhne durchsetzen, wenn Beschäftigte selbstbewusst sind und sich organisieren. Wer aber in einem 400-Euro-Job schafft, nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat oder als Leiharbeiter eingesetzt ist - heute hier, morgen da -, hat schlicht und ergreifend Existenzangst. Er fragt sich zu Recht: Fliege ich raus, wenn ich mich engagiere? Ist mein Job dann ganz weg?

So sieht die Wirklichkeit von Millionen von Menschen mit prekären Arbeitsverhältnissen aus. Dafür trifft nicht diese Menschen die Schuld, sondern einzig und allein die Politik,

(Beifall bei der LINKEN)

allen voran SPD und Grüne, die mit den Hartz-Gesetzen die Menschen gedemütigt und - bewusst oder unbewusst - den Gewerkschaften einen Knüppel zwischen die Beine geworfen haben. Gedemütigte Menschen engagieren sich nicht, organisieren sich nicht, setzen auch nicht über die Gewerkschaften gerechte Arbeitsbedingungen durch. Union und FDP haben - das wissen wir alle; das ist auch heute Morgen wieder geschehen - diesen Zuständen noch applaudiert und Hurra gerufen.

So sieht es aus. Jetzt beklagen wir, dass es so viele Menschen gibt, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Dafür sind Sie verantwortlich und niemand anderes. Aber obwohl nun endlich die Erkenntnis reift, dass es so nicht weitergehen kann, schaffen Sie es nicht einmal, wenigstens eine klare Grenze für Lohndumping einzuführen. Damit nicht genug: Letztlich missachtet die Koalition mit den beiden Gesetzentwürfen eine Lohnuntergrenze, die der Gesetzgeber faktisch längst festgelegt hat. Ich meine die Pfändungsfreigrenze, die derzeit bei rund 1 000 Euro netto liegt. Die Pfändungsfreigrenze besagt, dass einem verschuldeten alleinstehenden Arbeitnehmer oder einer verschuldeten alleinstehenden Arbeitnehmerin ein Einkommen mindestens in dieser Höhe zusteht und nicht gepfändet werden darf; denn weniger als 1 000 Euro reichen nicht zum Leben. Aber Sie wollen allen Ernstes mit den vorliegenden Gesetzentwürfen Tariflöhne zu Mindestlöhnen erklären, bei denen nicht einmal 1 000 Euro brutto auf dem Lohnzettel stehen.

(Dr. Lothar Bisky [DIE LINKE]: So ist das!)

Eine Friseurin in Brandenburg, um ein zugegebenermaßen extremes, aber leider nicht gering verbreitetes Beispiel zu nennen, bekommt 2,75 Euro die Stunde per Tarifvertrag. Das wollen Sie mit diesen Gesetzen zum Mindestlohn erklären. Das ist zynisch und menschenunwürdig.

(Beifall bei der LINKEN - Dirk Niebel [FDP]: Sie sind doch Gewerkschaftssekretär!)

- Deshalb habe ich es ja gesagt, Herr Niebel. Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, wovon ich rede.

(Beifall bei der LINKEN)

Hätten wir in Deutschland einen Mindestlohn wie in Frankreich, würde bei einer Vollzeitarbeit ein Nettolohn ermöglicht, der mindestens auf der Höhe der Pfändungsfreigrenze in Deutschland läge. Der Mindestlohn in Frankreich beträgt derzeit 8,71 Euro die Stunde. Das sollte auch für einen Mindestlohn in Deutschland eine Orientierungszahl sein.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nur vorübergehend, oder?)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Dreibus, nun möchte der Kollege Niebel, wie beinahe vorprogrammiert, die von Ihnen provozierte Zwischenfrage stellen.

Werner Dreibus (DIE LINKE):

Das war ja fast schon eine Vorlage. - Bitte schön, Herr Niebel.

Dirk Niebel (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe mich mit dieser Frage lange zurückgehalten und gedacht, ich könne sie umgehen. Aber dem Handbuch des Deutschen Bundestages ist zu entnehmen, dass Sie, Herr Kollege Dreibus, im Hauptberuf Gewerkschaftssekretär sind,

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Verbrechen, Herr Niebel, oder?)

also durchaus jemand, wie Sie gesagt haben, der sich mit Tarifverhandlungen auskennt. Da Sie jetzt aber im Rahmen Ihres Wortbeitrages schon mehrfach gesagt haben, dass die untersten Tariflöhne, die von der Regierung - ich bin gegen Mindestlöhne, nur dass das nicht vergessen wird -

(Andrea Nahles [SPD]: Was für eine Überraschung!)

als allgemein verbindliche Mindestlöhne eingeführt werden sollen, sittenwidrige Dumpinglöhne sind - so ungefähr haben Sie es formuliert -, frage ich mich, warum Ihre Kolleginnen und Kollegen Gewerkschaftssekretäre Tarifverträge mit solchen sittenwidrigen Dumpinglöhnen unterschreiben.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, das frage ich mich auch!)

Werner Dreibus (DIE LINKE):

Ich gebe Ihnen zwei Antworten darauf. Erstens. Wenn Sie mir vor der Formulierung Ihrer Frage bei meiner Rede zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, dass ich die Antwort bereits gegeben habe.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Ich bin als Gewerkschafter bei diesen Entwicklungen Täter und Opfer zugleich. Ich bin als Gewerkschafter in vielen Fällen - wenn die Bedingungen so sind, dass Menschen, beispielsweise Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, nicht in der Lage sind, sich engagiert für ihre Interessen einzusetzen, weil sie Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren -

(Dirk Niebel [FDP]: Nehmen Sie doch mal die Friseurin!)

gezwungen, gemeinsam mit diesen Menschen das Mindeste herauszuholen, was herauszuholen ist, und das sind oft sittenwidrige Löhne.

(Dirk Niebel [FDP]: Was ist mit den Friseuren? - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das heißt, Sie handeln vorsätzlich sittenwidrig!)

Aber wenigstens bin ich in der Lage, mein eigenes Tun kritisch zu sehen und festzustellen, dass Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um das in Zukunft zu ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieses Maß an Selbstkritik würde ich auch bei Ihnen gerne erkennen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein Armutszeugnis, Herr Kollege Dreibus!)

Ich wiederhole: Hätten wir in Deutschland einen Mindestlohn wie in Frankreich, dann hätten wir ihn in einer Größenordnung von 8,71 Euro. Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit Mindestlöhnen, dann müssen Sie in der Koalition über solche Größenordnungen sprechen, Herr Minister. Nur dann kommen wir ein Stück weiter.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Zur Redlichkeit der Politik gehört auch, den Willen der Menschen zu achten. Drei Viertel der Deutschen sind für gesetzliche Mindestlöhne. Alle Umfragen zeigen das. Auch unter den Wählern der CDU gibt es dafür eine deutliche Mehrheit. Das wissen Sie. Sie handeln somit gegen den Willen Ihrer Wählerinnen und Wähler.

Demokratie heißt Volksherrschaft. Darum geht es bei diesem Thema genauso wie bei dem Thema Finanzkrise. Nur so sind die Worte meines Fraktionsvorsitzenden gestern zu verstehen, gemeint und auch gesagt worden. Die Finanzkrise ist eine Krise der Demokratie, weil wir die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Deshalb besteht für uns die verdammte Pflicht und Notwendigkeit, mit demokratischen Entscheidungen Korrekturen herbeizuführen - im Bereich der internationalen Finanzkrise genauso wie beim Thema Dumpinglöhne.

(Beifall bei der LINKEN)

Nicht nur wir kritisieren die vorliegenden Gesetzentwürfe. Viele Experten haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten damit beschäftigt und darauf hingewiesen, dass manches in diesen Gesetzentwürfen einen Schritt darstellt, dass aber das eigentliche Problem, nämlich die Schaffung einer sicheren Lohnuntergrenze, mit diesen Gesetzentwürfen nicht gelöst wird. Dies ist jedenfalls kein Ersatz für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.

Auch der Weg über das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen ist keine Alternative. Wir müssten für jede heute tariflose Branche eine Kommission bilden, und es müssten Verhandlungen geführt werden. Das würde einen riesigen Aufwand bedeuten. Am Ende wäre noch nicht einmal sichergestellt, dass bei solchen Gesprächen ein vernünftiger Mindestlohn he-rauskommt. Dass Hunderte von Branchenmindestlöhnen zudem völlig intransparent wären, sei hier nur am Rande erwähnt.

Die Experten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB haben in ihrer Studie da-rauf hingewiesen:

Zu erwarten ist auch, dass zahlreiche Lücken bleiben, wenn nicht systematisch und flächendeckend für alle in Betracht kommenden Niedriglohnbranchen Verfahren in Gang gesetzt werden.

Das Fazit der Wissenschaftler des DGB lautet: Die erwartbaren

Regelungslücken werden auch in Deutschland dafür sorgen, dass eine universelle Lösung im Sinne eines allgemeinen, branchenübergreifenden Mindestlohns auf der Tagesordnung bleibt.

An dieser Stelle eine zweite Zwischenbemerkung, gerichtet an diejenigen, die meinen, der deutsche Kapitalismus breche zusammen, wenn ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird.

(Andrea Nahles [SPD]: Der bricht auch ohne zusammen!)

Es ist schon davon gesprochen worden: In 20 EU-Staaten gibt es Mindestlöhne. Darunter sind Staaten wie Großbritannien oder die Niederlande. In beiden Ländern liegt der Mindestlohn deutlich über 8 Euro, und er schadet dem Arbeitsmarkt in keiner Weise. Da überall im Kapitalismus dieselben ökonomischen Gesetze gelten, ist zu erwarten, dass die deutsche Wirtschaft unter einem Mindestlohn von 8,71 Euro - wie die Franzosen ihn haben - nicht zusammenbrechen wird.

Der wahre Grund dafür, weshalb die Regierung und die FDP - zumindest die CDU und die FDP - den gesetzlichen Mindestlohn so nachhaltig ablehnen, ist doch ein ganz anderer. Wir alle wissen, dass billige Löhne letztlich höhere Profite bedeuten. Das sagen Sie so natürlich nicht. Um Gottes Willen. Jetzt schon gar nicht in diesen Zeiten. Täten Sie es, wäre allen sofort klar, dass Sie die einen bei schmaler Kost halten wollen, damit es den anderen besser geht. Deshalb müssen wir uns von Ihnen immer wieder die Mär anhören, ein gesetzlicher Mindestlohn würde Arbeitsplätze vernichten. Das ist blanker Unsinn.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Für jemanden, der vorsätzlich sittenwidrige Löhne vereinbart, hauen Sie ganz schön auf die Pauke!)

Wer einen klaren Blick hat, der weiß, was zu tun ist. Wir brauchen ein Gesetz, das erstens einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn festlegt und das zweitens den Tarifparteien ermöglicht, branchenspezifische Mindestlöhne zu vereinbaren, sofern diese über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.

Meine Fraktion hat bereits im Jahr 2006 Eckpunkte für ein solches Gesetzgebungsverfahren in den Bundestag eingebracht. Dabei orientieren wir uns an den schon mehrfach zitierten positiven Erfahrungen Großbritanniens.

Dazu ein letztes Zitat. Auf einer Anhörung meiner Fraktion stellte John Cridland dazu fest:

Bisher war der Mindestlohn ein großer Erfolg. Für mehr als eine Million Arbeitnehmer sind die Löhne deutlich angehoben worden, ohne dass dies Arbeitsplätze gekostet hätte. Auch die Wirtschaft ist nicht behindert worden.

Herr Cridland ist stellvertretender Vorsitzender des britischen Industrieverbandes, also sozusagen des BDI von Großbritannien, und Mitglied der britischen Low Pay Commission. Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)