Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge: Dieses Ereignis hat es tatsächlich verdient, würdig hier im Parlament besprochen und diskutiert zu werden. Wir haben gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen im Ältestenrat den Antrag für eine Vereinbarte Debatte eingebracht. Es ist schade, dass CDU/CSU und SPD das offensichtlich nicht wollten und dass es eine von der Opposition beantragte Aktuelle Stunde brauchte, um darüber zu diskutieren. Es zeigt auch, mit welcher Euphorie diese Bundesregierung Europa begleitet.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg ist wohl die größte historische Errungenschaft, die die hier im Bundestag vertretenen Generationen miterleben dürfen. Die Europäerinnen und Europäer begegnen sich heute nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in Städtepartnerschaften, internationalen Universitäten, Austauschprogrammen, Konferenzen oder auch im Europäischen Parlament. Das ist historisch betrachtet eine Sensation.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Jahrestag der Römischen Verträge ist daher selbstverständlich ein Grund zum Feiern. Wir müssen diesen Jahrestag aber auch zum Anlass nehmen, darüber zu reden, dass die Europäische Union ganz offenkundig in der tiefsten Krise ihrer Geschichte ist. Wenn es hierfür noch der Beweise bedarf, dann sind dies die Entscheidung Großbritanniens zum Ausstieg aus der Europäischen Union, die Rechtsentwicklung in vielen Mitgliedsländern, aber auch antidemokratische Tendenzen in osteuropäischen Ländern oder die Tatsache, dass Europa immer mehr von seinen Werten Abstand nimmt. Das ist, glaube ich, nicht gut. Wir kritisieren zu Recht, dass die USA Mauern an der Grenze zu Mexiko aufbauen wollen. Wir selbst aber bauen an den Grenzen Europas Mauern – gegenüber Menschen, die auf der Flucht sind und in Europa Hilfe suchen. Auch das muss man an diesem Tag deutlich zum Ausdruck bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor wenigen Tagen war der Infobus des Deutschen Bundestages in Kaiserslautern, meiner Heimatstadt. Da hat eine junge Schülerin, 17 Jahre alt, mit Migrationshintergrund, zu mir gesagt: Die Friedensidee Europas ist richtig und gut, sie reicht aber nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa zu gewinnen. Die junge Generation glaubt nicht, dass mit dem Ausstieg Großbritanniens die Kriegsgefahr in Bezug auf dieses Land wieder größer geworden ist. – Die Friedensidee, die Europa bewegt hat, reicht also heute nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa zu gewinnen.
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die jungen Menschen sind eher europabegeistert!)
Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit. Wir müssen deutlicher machen, dass die EU mehr ist als ein Projekt der Banken und der Großkonzerne. Wir brauchen ein Europa der Menschen.
(Beifall bei der LINKEN)
Davon haben wir uns durch die Wirtschaftskrise weiter entfernt als jemals zuvor.
Deshalb sage ich: Was sollen denn die jungen Menschen in Südeuropa denken, wo die Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent liegt? Der Gedanke, dass Europa Wohlstand bringt, wird doch da gar nicht mehr verwirklicht. Wir erleben gerade auch in Südeuropa, dass viele junge Menschen über Generationen keine Chance mehr auf mehr Wohlstand haben. Vielmehr fühlen sie sich abgehängt und verbinden das auch mit einer Austeritätspolitik, die ihnen von der Europäischen Union und insbesondere von dieser Bundesregierung mit Merkel und Schäuble verordnet worden ist. Sie haben sich mit dieser Austeritätspolitik an der europäischen Idee versündigt.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Weißbuch, das die Europäische Kommission jetzt auf den Weg gebracht hat, ist ein Beweis dafür, dass man keine grundlegenden Ideen mehr hat. Es ist eine Sammlung von möglichen Wegen, wie man Europa besser gestalten kann. Aber ich sage: Das hängt nicht damit zusammen, in welchen Geschwindigkeiten man sich in Europa beteiligt, es hängt nicht damit zusammen, ob man einen eigenen Weg oder mit wenigen anderen Ländern zusammen eigene Wege in Europa suchen kann. Die Politik in Europa muss sich ändern. Nur das ist der Schlüssel für mehr Europa und für ein besseres Europa.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Nicht die Institutionen sind das Problem, sondern die Politik, die diese Institutionen betreiben, ist falsch. Sie muss geändert werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Linke wird den mit dem Weißbuch einhergehenden Prozess proeuropäisch begleiten. Wir sagen auch ganz deutlich: Wir brauchen einen Neustart der Europäischen Union. Die Verträge von Lissabon haben leider den Neoliberalismus als Grundlage in die EU-Verträge aufgenommen. Das muss sich grundlegend ändern.
(Beifall bei der LINKEN)
Abschließend möchte ich – das habe ich auch gestern im Europaausschuss gesagt – an die gestrige Rede des neuen Bundespräsidenten erinnern, der deutlich gesagt hat: Demokratie lebt auch davon, dass man Kritik zulässt, dass kritische Stimmen wahrgenommen werden, dass man sich damit beschäftigt. – Aber wie gehen wir in Deutschland und auch in Europa oftmals mit Kritik an der Europäischen Union um? Wir kritisieren pauschal, die Kritiker seien alle Antieuropäer. Wir dürfen die Kritik an Europa aber nicht immer antieuropäisch verklären. Wir müssen den Menschen die Chance geben, für ein besseres Europa zu kämpfen, ohne stigmatisiert zu werden.
(Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])
Deswegen sage ich ganz deutlich: Die Gegner von TTIP oder CETA sind doch keine Antieuropäer. Sie wollen keinen Handel verbieten, sie wollen Europa nicht beschädigen, sondern sie wollen einen fairen Handel. Deshalb muss man diese Kritik auch in Zukunft zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ja. – Deswegen sage ich ganz deutlich: Wer den Rechtspopulisten das Wasser abgraben will, muss die Sorgen der Bürger ernster nehmen und auch ihre Diskussionen ernst nehmen,
(Joachim Poß [SPD]: Den Linkspopulisten auch, nicht nur den Rechtspopulisten!)
um vielleicht auch in ihrem Sinne die Politik zu verändern. Nur dann wird Europa gelingen – sozial, friedlich und demokratisch.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)