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Afghanistan-Bericht ist ein Dokument des Scheiterns

Rede von Jan van Aken,

Unter den Bedingungen des Krieges ist kein Frieden in Afghanistan herzustellen

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal, Herr Westerwelle, muss ich sagen, dass es tatsächlich ein Fortschritt ist, dass es diesen Bericht überhaupt gibt. Seit neun Jahren führt die Bundesrepublik Krieg in Afghanistan. Neun Jahre lang hat es niemand für nötig gehalten, mal zu schauen, was dieser Krieg eigentlich in Afghanistan anrichtet.
Das richtet sich auch an die Grünen und an die SPD. Sie haben vor neun Jahren gemeinsam diesen Krieg beschlossen. Herr Steinmeier, Sie waren acht Jahre lang Minister einer Bundesregierung, die in Afghanistan Krieg führt. Sie haben es nie geschafft, so einen Bericht vorzulegen. Jetzt plustern Sie sich auf und fordern eine unabhängige Evaluation. Das ist zwar richtig, aber weil Sie das in der Regierung versemmelt haben, können Sie sich jetzt nicht so aufplustern. Das glaubt Ihnen kein Mensch mehr.
(Beifall bei der LINKEN - Burkhard Lischka (SPD): Legen Sie mal eine andere Platte auf!)
Herr Westerwelle, ich war beim Lesen der ersten Seiten des Berichtes positiv überrascht, weil Sie darin ein ehrliches, ein ganz katastrophales Bild der Situation in Afghanistan zeichnen. Sie schreiben, dass die Sicherheitslage immer schlechter wird. Gerade haben Sie gesagt, dass es eine Trendwende gibt. Aber Ihre Zahlen und Ihr eigener Bericht bieten ein anderes Bild. Sie sagen: Die Sicherheitslage ist so schlecht wie nie zuvor. Sie schreiben in dem Bericht: Es gibt in diesem Jahr mehr Tote als je zuvor, bei den NATO-Soldaten, bei den Bundeswehrsoldaten und natürlich auch, und zwar viel mehr, bei den Afghaninnen und Afghanen. Die Willkür, die Korruption, die Armut sind unvorstellbar groß.
Sie schreiben sogar als ich das las, habe ich gedacht, bei Ihnen gibt es auch einen Maulwurf der Linken; denn wir sagen das schon seit Jahren : Weil wir mehr Soldaten hingeschickt haben, gibt es mehr Tote in diesem Land. Das ist doch das beste Argument dafür, die Bundeswehrsoldaten jetzt und sofort aus Afghanistan abzuziehen, wenn sie nur die Sicherheitslage verschlechtern.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Sie ein derart ehrliches katastrophales Bild der Lage zeichnen, frage ich mich, warum Sie das Ganze „Fortschrittsbericht“ nennen. Es gibt keinen Fortschritt. Der ganze Bericht ist ein Dokument des Scheiterns. Auf 108 Seiten dokumentieren Sie, wie der Krieg in Afghanistan in neun Jahren auf der ganzen Linie gescheitert ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie reden hier heute von Abzug, Sie reden hier heute von Aufbau, und Sie reden hier heute von Terrorismus, Herr Kauder. Ich muss Ihnen sagen: Ihr Abzug ist kein Abzug, Ihr Aufbau ist kein Aufbau, und Ihre Terrorbekämpfung hat nichts mit Terrorbekämpfung zu tun.
(Beifall bei der LINKEN)
Kommen wir zum ersten Punkt, dem Abzug. Heute Nachmittag wird der amerikanische Präsident, Barack Obama, erklären, dass es beim vorgesehenen Zeitplan bleibt: Im Juli nächsten Jahres beginnt der Abzug der amerikanischen Truppen. Was kann Barack Obama, was Sie nicht können, Herr Westerwelle? Warum können Sie nicht im nächsten Juli mit dem Abzug beginnen? Von mir aus schon heute, aber warum können Sie nicht wenigstens im nächsten Juli damit beginnen? Was kann er besser?
Dann komme ich zu dem Punkt, dass Ihr Abzug überhaupt kein Abzug ist. Sie haben gerade gesagt: Es wird nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr geben. Das ist eine Vernebelungstaktik.
(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Richtig!)
Denn das heißt, dass offensichtlich andere Bundeswehrsoldaten noch im Land bleiben werden. Sie wollen gar nicht ganz aus Afghanistan herausgehen.
In dem Bericht schreiben Sie das ist nur noch peinlich , dass die afghanische Regierung Sie bitten wird, im Jahre 2014 noch Bundeswehrsoldaten im Land zu lassen. Wenn Sie das schon heute wissen, dann gibt es offensichtlich Gespräche, vielleicht sogar schon Absprachen, dann müssen Sie das auf den Tisch legen. Sie müssen deutlich sagen, welche Einheiten der Bundeswehr auch nach 2014 bleiben sollen. Wenn Sie jetzt vom Abzug 2014 reden, ist das gelogen. Das sollte kein einziger Mensch da draußen glauben.
(Beifall bei der LINKEN)
Kommen wir zur Terrorbekämpfung. Herr Kauder hat es gerade gesagt es steht auch im Bericht -: Der Anfangsgrund und der fortdauernde Grund für den Einsatz in Afghanistan ist die Terrorbekämpfung. Ein paar Seiten weiter ist im Kleingedruckten zu lesen: Al-Qaida ist gar nicht mehr in Afghanistan.
Bei Hillary Clinton lese ich ich bin mir sicher, dass Sie dieselben Informationen haben : Die Hauptquelle für die Finanzierung von al-Qaida und die ganzen sunnitischen Terroristen kommt aus Saudi-Arabien. Aber mit Saudi-Arabien und seinen Menschenrechtsverletzungen kuscheln Sie. Stattdessen schicken Sie die Bundeswehr nach Afghanistan, obwohl dort gar keine Al-Qaida-Kämpfer sind. Wenn es Ihnen um Terrorbekämpfung geht, dann müssen Sie das anders machen. Mit Militär und Krieg in Afghanistan geht das nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt zum Aufbau. Der Aufbau, wie Sie ihn betreiben, ist gar kein Aufbau. Ich war Anfang des Jahres in Afghanistan. Wir waren im Bundeswehrlager Kunduz und haben gesehen, wie dort der Aufbau funktioniert. Das Lager heißt sogar noch „Wiederaufbaulager Kunduz“. Dazu muss man wissen, dass dort über 1 400 Bundeswehrsoldaten stationiert sind, von denen ganze 12 Wiederaufbauhelfer sind. Die Soldaten selbst sagen, dass sie seit zwei Jahren keinen einzigen Brunnen mehr gebaut und keine einzige Schule mehr eröffnet haben. Unter den Bedingungen des Krieges findet dort kein Aufbau statt.
Wir waren auch in Kabul und haben dort mit echten Entwicklungshelfern geredet. Ich habe eine Geschichte gehört, die mich bis heute beeindruckt. Ein Deutscher er war ein staatlicher Entwicklungshelfer, also kein wildgewordener Nichtregierungsmensch hat mir von einer Anfrage der holländischen Armee erzählt, die - anders als die Bundeswehr - mittlerweile abgezogen ist, in der Provinz Uruzgan ein Projekt durchzuführen. Uruzgan ist Taliban-Land, schwer umkämpft. Dort wird viel geschossen. Alle Kollegen haben ihm gesagt: Mach das bloß nicht, da wirst du sofort vom Acker geschossen.
Dann hat er etwas Schlaues gemacht. Er hat sich an eine afghanische Institution gewandt, die Wissenschaftler in allen Provinzen, Distrikten und ethnischen Gruppen hat. Sie hat ihm eine Analyse erstellt, wer eigentlich das Sagen in Uruzgan hat die traditionellen Strukturen, die neuen Strukturen , wer dort auf wen schießt und warum. Mit dieser Analyse in der Hand ist er nach Uruzgan gegangen, hat mit den richtigen Leuten geredet und mit ihnen gemeinsam ein Projekt entwickelt, in dessen Rahmen er nicht nur den Brunnen gebohrt hat, sondern landwirtschaftliche Projekte dazu gemacht hat und sogar eine weiterverarbeitende Industrie aufgebaut hat, damit die jungen Menschen dort nicht nur die Wahl haben, zu den Taliban zu gehen, sondern auch in die Fabrik gehen können. Am Ende sagte er lapidar, er sei nicht vom Acker geschossen worden. Die einzige Bedingung, damit es geklappt hat, war: kein Militär. Die Holländer haben sich daran gehalten und sind nicht in die Nähe des Projektes gegangen. Diese Geschichten hören Sie überall in Afghanistan. Sie können vernünftig aufbauen - ohne Militär.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Sie schon nicht auf mich hören das kann ich ja noch verstehen und wenn Sie auch nicht auf Ihre eigenen Entwicklungshelfer hören das könnte ich auch noch verstehen , dann hören Sie doch vielleicht auf den ehemaligen Bundeswehrarzt, Herrn Erös, der seit Jahren Schulen, auch Mädchenschulen, mitten im Taliban-Gebiet baut. Er sagt genau das Gleiche: erstens mit den richtigen Leuten reden, zweitens ohne Soldaten. Dann klappt es. Das ist für mich das zweite sehr gute Argumente dafür, sofort die Bundeswehr abzuziehen und dort dann endlich einen richtigen Aufbau, einen zivilen Aufbau, anzuschieben.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich muss sagen, dass es auf diesen 108 Seiten tatsächlich eine Erfolgsgeschichte gibt. Sie haben mit zwei großen Kästen herausgestellt, wie Sie den Distrikt Chaha Darreh bei Kunduz von den Taliban befreit haben, wie der Aufbau dort jetzt wieder beginnt. Beim zweiten Lesen habe ich gesehen, dass diese Erfolgsgeschichte zwei, drei Wochen alt ist; das haben Sie in diesem November gemacht. Vorgestern habe ich dann aber in der Zeitung gelesen, dass diese Erfolgsgeschichte schon wieder Makulatur ist, bevor Ihr Bericht überhaupt in Druck gegangen ist. Am Freitag gab es in Chahar Darreh einen schweren Anschlag von Taliban mit vielen Toten und Verletzten. Ihre Erfolgsgeschichten halten zwei, drei Wochen, weil Sie unter Bedingungen des Krieges keinen Frieden in Afghanistan herstellen können. Das funktioniert so nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Sie eine Lösung, vor allen Dingen eine langfristige Lösung, in Afghanistan wollen, dann ist am Ende der einzige Weg, dass Sie dort die wirklich demokratischen Kräfte unterstützen. Sie wissen genauso gut wie alle hier im Hause, dass in der Regierung Karzai Kriegsverbrecher, Folterer und Vergewaltiger aus den 90er-Jahren sitzen. Auch viele Abgeordnete im Parlament sind Kriegsverbrecher der 90er-Jahre. Solange sie dort und vor allen Dingen auch in der Regierung Karzai sitzen, wird es keinen Frieden geben. Der einzige Weg ist die Unterstützung der wirklich demokratischen Kräfte, die es ja auch gibt, zum Beispiel den Präsidentschaftskandidaten Baschardost und viele andere, die wir getroffen haben. Wir werden sie im Januar zu einer Konferenz nach Berlin einladen, auf der wir das demokratische Afghanistan vorstellen wollen. Diese Kräfte gilt es zu stärken, und zwar nicht in den nächsten 10 Monaten, sondern in den nächsten 10, 20 Jahren, damit irgendwann der Fortschritt in Afghanistan wirklich stattfindet.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte noch ein letztes Wort zu dem Bericht sagen. Anfang des Jahres haben Sie sich endlich durchgerungen, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nennen. In diesem Bericht wird der Begriff „Krieg“ kein einziges Mal verwendet; da reden Sie nur von Engagement usw. Ich kann ja noch verstehen, dass Sie nicht gerne von den Realitäten, also vom Krieg, in Afghanistan reden. Aber dann steht hier an drei Stellen für das heutige Afghanistan, für das Afghanistan des Jahres 2010, tatsächlich der Begriff „Nachkriegsgesellschaft“. Wie verquast muss man im Kopf eigentlich sein, dass man in einer Situation, in der in jedem Jahr Tausende von Toten zu beklagen sind, von Nachkriegsgesellschaft spricht? Das geht so nicht. Herr Westerwelle, Sie haben da noch ordentlich Aufbauarbeit zu leisten, vor allem in Ihrem Ministerium, in Afghanistan aber natürlich auch.
(Beifall bei der LINKEN)
Diese ganze Vernebelungstaktik, dass Sie vom Abzug reden, ihn aber gar nicht meinen, dass Sie nicht von Krieg reden, obwohl er dort tobt, führt natürlich dazu, dass immer mehr Deutsche den Krieg ablehnen. Die letzte Zahl von gestern: 71 Prozent der Menschen wollen den Krieg in Afghanistan nicht. Diese Zahlen steigen immer weiter. Vor einem Jahr, als Sie die Bomben auf Kunduz abgeworfen haben, ist es gestiegen, im April, als es viele in Afghanistan gestorbene Bundeswehrsoldaten zu beklagen gab, ist es gestiegen, und es steigt immer weiter. Solange Sie den Menschen nicht die Wahrheit sagen dies versuchen Sie mit Ihrer Vernebelungstaktik immer wieder , so lange wird die Ablehnung steigen. Ich sage Ihnen: Sie halten es nicht mehr lange durch.
(Beifall bei der LINKEN)
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte. Gestern hat die Bundesregierung den Rüstungsexportbericht 2009 vorgelegt. Die Zahlen sind wie immer katastrophal. Deutschland ist noch immer der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Nach Ihren Zahlen wurden Waffen im Wert von über 5 Milliarden Euro exportiert. Und das sind Ihre Zahlen! Die Waffenexporte in Entwicklungsländer haben sich verdoppelt. Wissen Sie, wer der zweitgrößte Abnehmer deutscher Waffen ist? Das sind die Vereinigten Arabischen Emirate, die laut Hillary Clinton - das alles können Sie bei WikiLeaks nachlesen - einer der größten Finanziers von al-Qaida sind. Ich finde, wenn Sie wirklich an einer friedlichen Lösung von Konflikten in der Welt interessiert sind, dann müssen Sie grundsätzlich die Waffenexporte einstellen.
Am schlimmsten finde ich: Sie haben Saudi-Arabien sogar genehmigt, eine eigene Fabrik für Maschinengewehre der Marke Heckler & Koch zu bauen. Wissen Sie, was das bedeutet? Diese Fabrik wird 50 Jahre, wenn nicht sogar länger, Maschinengewehre der modernsten Bauart produzieren. Diese Maschinengewehre werden mindestens 50 Jahre in Kriegen auf dieser Welt eingesetzt werden. Das heißt, das, was Sie jetzt entschieden haben, wird noch in 100 Jahren überall auf der Welt zu Toten führen. Mir fehlen die Worte. Ich finde das einfach nur furchtbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Eigentlich finde ich das sogar unchristlich. Herr Kauder, Sie müssen sich dabei doch auch an das Christliche in Ihrem Parteinamen erinnern. Ich kann verstehen, dass Sie nicht alle Rüstungsexporte einstellen. Aber wenigstens den bei den Maschinenpistolen, Maschinengewehren und Sturmgewehren, die weltweit zu so vielen Toten führen, das müssen wir einstellen. Wir sollten an diesem Punkt zusammenkommen und endlich den Export solcher Waffen verbieten.
Ich bedanke mich bei Ihnen.