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Ab jetzt wollen wir unsere Rechte wahrnehmen.

Rede von Ilja Seifert,

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Das Gesetz, das am Ende dieser Beratungen, noch in dieser Wahlperiode, erlassen werden soll, muss sich daran messen lassen, was es im realen Leben der Conterganopfer wirklich verbessert. Die Schädigungen, die durch die Einnahme des Präparats eingetreten sind, können wir nicht rückgängig machen, auch nicht die vielen Folgen, die die Conterganopfer und ihre Angehörigen inzwischen tragen mussten. Dass die Lebenssituation von Conterganopfern und ihren Angehörigen dramatisch ist, wussten wir schon lange; Kollegin Rupprecht, Sie haben es erwähnt. Jetzt ist es uns durch den Abschlussbericht zum Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg auch noch schriftlich nachgewiesen worden.

Aber wir wissen auch: Ursache für die Schädigungen sind zahlreiche Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte – Versäumnisse der Bundesregierung, Versäumnisse der Justiz, Versäumnisse der Schädiger. Wir, der Bundestag, sind in der Pflicht, den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Bedauerlicherweise ist das durch Ihren Gesetzentwurf noch nicht erreichbar. Die Handlungsempfehlungen des Abschlussberichts zum Forschungsprojekt der Universität Heidelberg sowie die Stellungnahmen der Betroffenen können bei der Suche nach wirklich guten Lösungen sehr hilfreich sein. Es ist übrigens auch erlaubt, die Stellungnahme des Rechtsanwaltes Dr. Oliver Tolmein – er war bei der Anhörung als einer der Sachverständigen anwesend – oder den Antrag der Linken – Drucksache 17/11041 –, der schon im Oktober vergangenen Jahres eingebracht wurde, zurate zu ziehen.
(Beifall bei der LINKEN)

Der Familienausschuss hat am 1. Februar dieses Jahres eine sehr beeindruckende Anhörung durchgeführt. Alle, die dabei waren, haben das erlebt. Über 200 Conterganopfer sind zu dieser Anhörung gekommen und haben deutlich gezeigt, was sie wollen.
Interessant ist, dass die Bundesregierung bzw. die Koalition just am Vorabend dieser Anhörung 120 Millionen Euro fand – ich weiß nicht, wo –, die sie den Conterganopfern in Zukunft zugutekommen lassen will. Ich finde das sehr gut. Ich frage mich aber trotzdem, warum das nur dann möglich ist, wenn eine Anhörung stattfindet

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Weil das Gutachten als Grundlage vorlag!)

und wenn die Opfer vor der Tür stehen und sagen: Ab jetzt reicht es nicht mehr, uns nur über das Köpfchen zu streichen. Ab jetzt wollen wir unsere Rechte wahrnehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Insofern ist der vorliegende Gesetzentwurf durchaus ein Erfolg der Betroffenen. Aber, wie gesagt, es gibt noch einiges zu tun.

Ich will hier noch auf einige Punkte eingehen. Die vorgeschlagene Erhöhung der Conterganrente stellt eine deutliche Verbesserung dar. Darüber gibt es keinen Zweifel. Das finde ich gut, und das finden auch die Betroffenen gut; das sagen sie auch. Dennoch weiß jede und jeder – Frau Bär hat es auch gesagt –, dass damit längst nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden, dass sie nur für einige ausreicht. Sie reden zum Beispiel weder von Schmerzensgeld noch von Entschädigung. Diese Worte meiden Sie wie der Teufel das Weihwasser. Das kann aber nicht sein. Es geht hier um Schmerzensgeld. Es geht um Entschädigung für zahlreiche Verletzungen der Menschenwürde, für die Verletzung ihrer Eigentumsrechte.

Tatsache ist auch, dass die erhöhte Conterganrente nicht ausreichen wird, den zunehmenden Assistenzbedarf und Pflegebedarf zu decken. Sie haben darauf hingewiesen, dass dies bei der Anhörung eine große Rolle spielte. Die Assistenz soll von dieser Rente nicht bezahlt werden.

Dann haben Sie eine neue Schadenspunktetabelle aufgeführt. Wozu brauchen wir eine Schadenspunktetabelle? Wäre es nicht viel logischer, zu sagen: „Jeder Punkt hat einen bestimmten Wert, zum Beispiel 80 Euro“? Dann kann man ganz leicht ausrechnen, welche Rente einem zusteht, indem man seine Punkte mit dem Punktwert multipliziert. Dann weiß man, wie viel Rente einem zusteht, ohne dass diese komischen Tabellen erstellt werden müssen, die nicht nachvollziehbar sind.

Es ist bisher immer noch nicht geklärt, wie Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden soll, unter Berücksichtigung von spät erkannten Schäden und Folgeschäden ihre Punktanzahl überprüfen und erhöhen zu lassen.

Wir brauchen die jetzt vorgesehenen Bundesmittel in Höhe von 30 Millionen Euro für die spezifischen Bedarfe. Das wurde bereits gesagt; das ist gar keine Frage. Aber wieso sind sie gedeckelt? Was wollen Sie tun, wenn im September eines Jahres noch jemand einen nachweisbar erforderlichen Betrag beantragt, aber kein Geld mehr vorhanden ist? Wollen Sie dann sagen: „Ihr müsst warten bis zum nächsten Jahr“? Die Deckelung dieses zusätzlichen Fonds ist logisch nicht nachvollziehbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb müssen wir hier nachbessern. Sie können nicht sagen: 120 Millionen Euro haben wir irgendwoher, und von da an ist Feierabend.
Zum Thema Ausschlussfristen. Wenn jemand contergangeschädigt ist, dann ist er es von Geburt an – keine Frage; das ist klar. Aber Sie berechnen die Höhe der Leistungen vom Tag der Antragstellung an. Wieso eigentlich? In diesem Sinne müssen alle bestehenden Aus-schlussfristen aufgehoben werden. Die bisher vorenthaltenen Leistungen müssen rückwirkend nachgezahlt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das wäre gerecht und würde auch dem Rechtsfrieden dienen.

Es gibt weiteren Diskussionsbedarf. Das werden wir im Ausschuss und, wie ich hoffe, in einer weiteren öffentlichen Anhörung beraten. Wir brauchen eine vernünftige Regelung für im Ausland lebende Conterganopfer. Wir müssen die Frage klären, wann Sozialgerichte und wann Verwaltungsgerichte zuständig sind.

Wir sollten noch einmal über den Namen der Stiftung nachdenken und über die Frage, welches Bundesministerium zuständig ist; denn das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird es wohl nicht sein.

(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Die Leute brauchen aber jetzt das Geld! Nicht zu lange warten!)

– Ich bin noch nicht fertig, lieber Kollege. – Auch hierzu gibt es übrigens gute Vorschläge von Herrn Tolmein oder den Linken. Reden wir noch einmal über die Stiftung. Die Kritik an der Stiftung, die am 1. Februar geäußert wurde, war sehr hart. Im Gesetzentwurf findet sich dazu überhaupt nichts. Sie muss demokratisiert werden. Sie muss öffentlicher werden. Sie muss transparenter werden. Die Stiftung gehört in die Hände und Füße der Conterganopfer.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen auch eine Entschuldigung. Ich finde es toll, dass sich der Kollege Jarzombek von der CDU während der Anhörung persönlich bei den Opfern entschuldigte. Aber ich finde, dass sich auch der Staat entschuldigen sollte. Wir als Bundestag könnten damit anfangen und die Bundesregierung auffordern, das auch zu tun, genauso wie die Firma Grünenthal und die Familie Wirtz.
(Beifall bei der LINKEN)

Zum Schluss. Vor 40 Jahren wurden die Eltern der Opfer vor die Entscheidung gestellt: Friss oder stirb! Nehmt, was ihr jetzt kriegen könnt, oder ihr kriegt gar nichts. – Jetzt stehen wir vor der Frage: Wollt ihr die Taube auf dem Dach oder den Spatz in der Hand? Ich denke, wir sollten so lange beraten, bis den Menschen die Taube in die Hand fliegt.

(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das ist ein bisschen übertrieben!)

– Lassen Sie mich doch bei meinem Bild bleiben. – Ich bin der Meinung, wir brauchen eine zusätzliche Anhörung.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann kannst du beraten, bis gar nichts mehr ist!)

Alle Fraktionen dieses Hauses haben heute die Möglichkeit, feierlich zu erklären, dass das Gesetz zum 1. August dieses Jahres in Kraft treten soll und dass die Leistungen rückwirkend gezahlt werden, damit niemand Angst haben muss, dass er oder sie um das gebracht wird, was er oder sie dringend braucht. Wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass wir eine gute Lösung finden und nicht nur sagen: Hier sind schnell die 120 Millionen Euro, dann seid aber ruhig.

Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Jedes Jahr! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wir sind es ihnen schuldig, dass wir das Problem lösen!)

Es geht um mehr als Geld, es geht um die Würde dieser Menschen.

(Beifall bei der LINKEN)

In diesem Sinne: Lassen Sie uns zusammenarbeiten. Grenzen Sie niemanden aus. Ich weiß nicht, warum Sie uns nicht gefragt haben, ob wir nicht vielleicht an Ihrem Gesetzentwurf mitarbeiten wollen.

(Beifall bei der LINKEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich verstehe nicht, warum man das jetzt schlechtreden muss!)
– Das hat etwas mit eurer Abgrenzung zu tun.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie sind zur Mitarbeit herzlich eingeladen!)

– Nein, Sie haben uns eben nicht eingeladen, lieber Kollege. Aber wenn es in Zukunft so sein sollte, dann freue ich mich selbstverständlich sehr, dabei zu sein.