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2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben unterhalb des Sozialhilfeniveaus

Rede von Diana Golze,

Rede zum Kinder- und Jugendbericht

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Herr Staatssekretär! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes leben mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland unterhalb des Sozialhilfeniveaus. Dieser Satz oder ähnliche Sätze waren im letzten Sommer in allen Zeitungen zu lesen. Mit anderen Worten: Von den 15 Millionen Kindern in Deutschland haben 2,5 Millionen Kinder schlechtere Bildungschancen und ein hohes Gesundheitsrisiko. Besonders hoch ist das Risiko, in Armut zu leben, für Kinder aus Migrantenfamilien, für Kinder von Alleinerziehenden und für Kinder in Ostdeutschland.

Dass Kinder in Armut leben, bedeutet nicht nur materielle Defizite. Das heißt, dass Kinder hungrig in die Kita oder in die Schule gehen. Das heißt, dass Eltern ihre Kinder von der Schulspeisung abmelden. Das heißt, dass diese Kinder oft genug keine Kultur- oder Bildungsangebote nutzen können, weil zum Beispiel das Geld für den Vereinsbeitrag fehlt. Das heißt, es gibt Kinder, die nicht zur Geburtstagsfeier ihres Schulkameraden gehen, weil sie kein Geschenk mitbringen könnten. Kinderarmut heißt: Armut an Bildung, Armut an gesellschaftlicher Teilhabe, ja sogar Gefahr für die Gesundheit. Wenn wir heute über die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen debattieren, kommen wir also unweigerlich zu der Frage, wie man mit existierender Armut bei Kindern und Jugendlichen umgeht kurz-,
mittel- und langfristig.

Als am 9. März des vergangenen Jahres der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht hier zum ersten Mal debattiert wurde, habe ich die Frage gestellt, zum wievielten Mal der Deutsche Bundestag die gravierenden Mängel in der Kinder- und Jugendpolitik in unserem Land beklagt. In den Monaten, die seit dieser Debatte vergangen sind, hatten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Möglichkeit, die Entwicklung positiv zu beeinflussen. Sie hätten zum Beispiel, wie es meine Fraktion mit dem Antrag „Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten Kinderarmut wirksam bekämpfen“ vorgemacht hat, von der Jugendministerin die dringend notwendige Evaluierung und Weiterentwicklung des Kinderzuschlags einfordern können. Sie haben die Gelegenheiten nicht genutzt. Stattdessen haben Sie einer Verschärfung der Voraussetzungen für die Beantragung des Kinderzuschlags durch die Hintertür zugestimmt , und das, obwohl Sie wissen, dass seit langem neun von zehn Anträgen abgelehnt werden. „Schöne Worte, falsche Taten“, auf diesen Nenner kann man Ihre Politik bringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dem setzen wir unseren Antrag, den Kinderzuschlag im Sinne der Betroffenen zu verbessern, entgegen. Wegfall der Mindesteinkommensgrenze, Aufhebung der Beschränkung des Bezugs des Kinderzuschlags auf maximal 36 Monate, eine soziale Sicherung für Kinder von Eltern mit geringem oder keinem Erwerbseinkommen, das sind unsere zentralen Forderungen. Sie könnten den Kinderzuschlag zu dem machen, was er eigentlich sein soll: ein Mittel, um zu verhindern, dass Familien in Armut, in Hartz IV leben müssen, nur weil ein Kind da ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Nebenbei würden Sie damit die Worthülsen Ihres Koalitionsvertrags mit Leben erfüllen. Den Kinderzuschlag verbessern, hatten Sie sich schon für 2006 vorgenommen. Papier ist ja geduldig. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass ich und meine Fraktion Sie an diese Passage erinnern werden, bis endlich Vorschläge auf dem Tisch liegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Leider ist eine Verbesserung des Kinderzuschlags nicht die einzige verpasste Gelegenheit. Sie haben einer Föderalismusreform zugestimmt, die die Zuständigkeiten des Bundes weiter einschränkt und minimiert. Uns sind an Stellen die Hände gebunden, wo ein Eingreifen dringend notwendig wäre und von allen Beteiligten erwünscht ist. Es ist einigermaßen seltsam, wenn jetzt von der Regierungsbank und aus den Reihen der SPD eine Debatte über die Verankerung eines erweiterten Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung angefangen wird. Gemeinsam mit den Menschen in diesem Lande frage ich mich ernsthaft, ob diese Regierung und die sie tragenden Parteien überhaupt wissen, was sie tun, geschweige denn, was sie getan haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Da hat im vergangenen Sommer die SPD fast geschlossen für eine Föderalismusreform die Hand gehoben, mit der es dem Bund für die Zukunft ausdrücklich untersagt wird, den Kommunen Aufgaben zu übertragen. Die Große Koalition hat die angebliche Jahrhundertreform im Fußballfieber durchgedrückt gegen den Rat der Experten, der Fachverbände und der Linksfraktion.

(Iris Gleicke (SPD): Linksfraktion im Zusammenhang mit Experten!?)

Es ist noch kein halbes Jahr vergangen; da fordern dieselben Abgeordneten nun einen erweiterten Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Ein richtiger Schritt. Aber wer soll diesen Anspruch einlösen? Die Kommunen mit ihren chronisch leeren Kassen? Der Städtetag hat sich zu Recht über dieses unseriöse Gebaren beschwert. Ich hatte schon im Sommer den Verdacht, dass die Abgeordneten der Koalition gar nicht so genau gelesen haben, was sie da verabschieden. Insbesondere die SPD geht offenbar davon aus, die Familien für dumm verkaufen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Partei stößt einmal mehr an die Grenzen eines Grundgesetzes, das sie offensichtlich gar nicht so genau kennt.

Ja, wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung, für alle Kinder, ab Geburt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ja, wir brauchen beitragsfreie Kinderkrippen und Kindergärten, besser heute als morgen. Ja, wir brauchen dafür eine neue Verfassungsänderung und eine Idee, woher das nötige Geld dafür kommen soll.

(Iris Gleicke (SPD): Aha!)

Aber vorher brauchen wir hier eine Grundsatzentscheidung: Sie müssen entscheiden, ob Sie Politik für Familien, für Kinder und Jugendliche machen wollen. Sie müssen entscheiden, ob Sie das Geld weiter den Unternehmen und den Börsengewinnlern hinterherwerfen wollen

(Beifall bei der LINKEN)

oder es für Kinder und Jugendliche einsetzen wollen, ob Sie den Mut haben, das nötige Geld mittels einer Börsenumsatzsteuer, durch eine soziale Umverteilung von oben nach unten, zu besorgen eine klare Forderung und ein ebenso einfacher wie tragfähiger Finanzierungsvorschlag.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wieso koalieren Sie eigentlich in Berlin mit der SPD? Erklären Sie mir das mal! Hier die Klappe aufreißen und in Berlin die gleiche Politik machen!)

Dafür steht die Fraktion Die Linke, Herr Kuhn.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich sage nur: Berlin!)

Die Koalition steht für das Gegenteil - ich sagte es bereits - : schöne Worte, falsche Taten.
Werfen wir einen Blick auf die Realität in den Ländern, die vom Bund in dieser Weise alleingelassen werden! Es zeichnet sich ein düsteres Bild: In Bayern kommt ein Kitaplatz einem Sechser im Lotto gleich. In vielen Einrichtungen werden die Kinder zudem nur stundenweise am Vor- und Nachmittag betreut. In Thüringen gibt es eine Prämie für Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kindertageseinrichtung bringen.

(Iris Gleicke (SPD): Dagegen wehren wir uns übrigens!)

In Sachsen-Anhalt wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesbetreuungsplatz vom Erwerbsstatus der Eltern abhängig gemacht. In Brandenburg wurde ähnlicher Unsinn beschlossen.

Nur zur Erinnerung: In dem hier zu Recht von allen Seiten gelobten Kinder- und Jugendbericht wird die Förderung von Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gefordert.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Bildung als Mittel zur Armutsverhinderung das brauchen wir. Genauso wie in unserem Entschließungsantrag, den Sie nachher sicher pflichtschuldig ablehnen werden, wird auch in dem Bericht die Anhebung der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher auf Hochschulniveau gefordert. Vielleicht haben Sie unseren Antrag ja genauso gut oder genauso wenig gelesen wie manch andere Gesetzentwürfe der Regierung, die Sie mit Ihren Stimmen hier passieren lassen.

(Iris Gleicke (SPD): Den haben wir gelesen! Deshalb lehnen wir ihn ab!)

Nach Angaben der OECD sind „Deutschland und Österreich die einzigen Länder Westeuropas, in denen keine nennenswerte Präsenz von Beschäftigten in der Kindertagesbetreuung mit einer grundlegenden Hochschulausbildung zu verzeichnen ist“...
Dieses Zitat stammt aus einer Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die vom Institut der deutschen Wirtschaft in Auftrag gegeben wurde.

(Iris Gleicke (SPD): Da müssen Sie sich gerade auf die beziehen!)

Auch wenn weder die OECD noch das PR-Kampfschiff der Arbeitgeber in Verdacht stehen, besonders eng mit unserer Fraktion verbandelt zu sein, ist diese Feststellung richtig. Erzieherinnen und Erzieher tragen eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Also sollte auch die Gesellschaft ihrer Verantwortung nachkommen und den Erzieherinnen und Erziehern eine bestmögliche Ausbildung angedeihen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun zum Bereich der Jugendhilfe. Sie muss laut Bericht eine erweiterte Rolle spielen, und ihr kommt eine höhere Bedeutung zu. Mich stimmt es aber schon nachdenklich, dass einer der Sachverständigen bei der Anhörung zur Föderalismusreform seine Stellungnahme mit dem Satz begonnen hat: Die Stellungnahme erfolgt vor der vielleicht optimistischen Annahme, dass die Ergebnisse der Anhörung noch Einfluss auf die beabsichtigte Föderalismusreform haben und die Anhörung nicht rituellen Zwecken dient. Der Mann es war im Übrigen Professor Johannes Münder, ein anerkannter Experte für das Kinder- und Jugendhilferecht sollte recht behalten. Seine eindrucksvollen Worte wurden gehört, es wurde genickt und gut.
Ich erinnere mich noch gut an einen Morgen im Familienausschuss, als die Kolleginnen und Kollegen der SPD vorschlugen, auf der Basis der äußerst kritischen Stellungnahme der Kinderkommission ein Ausschussvotum zu den Folgen der Föderalismusreform abzugeben. Genauso gut erinnere ich mich auch noch daran, wie schnell dieser Entwurf von den Tischen des Ausschusses damals wieder verschwand.

Meine Damen und Herren, Sie alle führen im Moment gerne die Worte „Generationengerechtigkeit“ und „demografischer Wandel“ im Munde. Viel zu oft tun Sie das aber nur, um damit neue Sozialabbauorgien zu begründen,
wie zum Beispiel die Rente ab 67 und die andauernden Verschärfungen für von Hartz IV Betroffene.

(Zuruf von der SPD: Das hat ja jetzt auch noch gefehlt! - Gegenruf der Abg. Caren Marks (SPD): Jetzt ist alles komplett! Es fehlt nur noch die Mehrwertsteuer! Das macht dann die FDP!)

Soziale Gerechtigkeit für alle im Land lebenden Menschen unabhängig von ihrem Alter - das ist unsere Forderung.

Wir haben an dieser Stelle mehr als einen Vorschlag gemacht. Für uns steht nicht die Frage im Mittelpunkt, ob wir zu wenige Kinder haben, sondern die Tatsache, dass zu viele Kinder in Armut leben. Wenn wir den Familien und den Kindern die Angst vor der Zukunft nehmen, dann schaffen wir auch die Rahmenbedingungen dafür, dass sich wieder mehr Familien für Kinder entscheiden werden. Daran werden wir weiter arbeiten, und wir werden Sie auf Ihre Verantwortung aufmerksam machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)