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Eine gerechte Finanzierung ist möglich!

Argumente und Gegenargumente zur solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung

Eine solidarische Finanzierung von Gesundheit und Pflege steht im Schnittpunkt verschiedener Interessen und Auseinandersetzungen über die zukünftige Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung. Was möglich ist und wie Fragen der Umsetzung diskutiert werden, hängt auch von den jeweiligen Kräfteverhältnissen ab. Jede Form der sozialpolitischen Regulierung stößt auf erbitterten Widerstand der Interessenvertreter der privaten Krankenversicherung, die ihre Gewinne gefährdet sehen. Angebliche Grundrechtsverletzungen auszurufen, ist eine der wesentlichen Verteidigungsstrategien der PKV-Lobby.

Im Folgenden soll der Stand unserer Argumentation zu verfassungsrechtlichen Fragen dargestellt werden. Das Papier dient als Argumentationshilfe und als Grundlage einer weiterführenden und kritischen Diskussion mit Wissenschaftler*innen und Verbänden.

Dieses Papier kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

„Die Solidarische Gesundheitsversicherung vernichtet Arbeitsplätze in der PKV“

Antwort: „Nach der Statistik des Arbeitgeberverbandes der Versicherungswirtschaft gliedern sich die (sozialversicherungspflichtigen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der PKV in 77,1 Prozent Innendienst, 17,4 Prozent Außendienst und 5,5 Prozent Auszubildende (2016). Wir gehen davon aus, dass ein nicht geringer Teil der Außendienst-Beschäftigten im expandierenden Markt der privaten Versicherungen weiterbeschäftigt werden kann. Außerdem wird die PKV weiterhin Zusatzversicherungen für medizinisch nicht notwendige Leistungen anbieten. Das heißt, ein Teil der Arbeitsplätze im Vertrieb (und auch im Innendienst) bleibt erhalten.

Im Innendienst Beschäftigten soll ein sozialverträglicher Übergang in die Unternehmen der gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht werden. Durch die Einführung der Solidarischen Gesundheitsversicherung kommen zu den rund 71 Mio. GKV-Versicherten rund 11 Mio. neue Mitglieder hinzu (davon 8,79 Mio. PKV-Versicherte – inklusive Beamtinnen und Beamte). Es entstehen im Gegenzug Arbeitsplätze, die vorrangig durch die ehemaligen Beschäftigten der PKV besetzt werden sollen. Viele Tätigkeiten sind durchaus vergleichbar oder ähnlich: Aufnahme neuer Mitglieder, Verwaltung, Betreuung, Beitragsermittlung, IT-Dienstleistungen, Sachbearbeitung, Sekretariat, Prämieneinzug, Rechtsabteilung etc. Wir werden uns für entsprechende Weiterbildungsangebote einsetzen, ebenso für Sozialpläne und andere Regelungen, die zum Ziel haben, dass der Anteil derer, die keine Anschlussbeschäftigung finden, möglichst klein sein wird.

Durch die Solidarische Gesundheitsversicherung haben die meisten Menschen mehr Geld auf dem Konto. Geld, das vor allem bei kleinen Einkommen fast vollständig in den Konsum fließt. Durch die höhere Kaufkraft steigt die Binnennachfrage. Insbesondere in personalintensiven Branchen, etwa bei Dienstleistungen, können bis zu 950.000 Arbeitsplätze durch den Kaufkraftschub aufgebaut werden. Dauerhaft kommen über 500.000 Menschen zusätzlich in Beschäftigung. Die erhöhte Konsumquote und die Stärkung der Binnenkaufkraft führen zur Verminderung der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der EU. Die positiven Effekte auf den Arbeitsmarkt sind also deutlich größer, als der befürchtete Arbeitsplatzrückgang.“ (Gutachten Klaus Bartsch)

„Die Beitragsbemessungsgrenze BBG kann nicht aufgehoben werden, denn dann müsste Familie Quandt/Klatten Millionen zahlen, denen keine Leistung gegenübersteht“

Antwort: „Gegen diese Argumentation steht die bisherige Ungerechtigkeit der degressiven Belastung: Damit Frau Klatten einen Beitrag von nur 682,95 Euro (2017) zahlen muss oder sich in die PKV verabschieden darf, werden Millionen von Geringverdienenden, Rentnerinnen und Rentner sowie mittlere Einkommen mit hohen Beiträgen, Zuzahlungen und Zusatzbeiträgen belastet. Für die Familie Quandt ist der Beitrag Peanuts, ein Nanoprozent des Einkommens – die Leiharbeiterin kommt auf satte 15,7 Prozent ihres Einkommens (mit Zusatzbeiträgen).

Hinzu kommt, dass das Äquivalenzprinzip, auf das sich diese Argumentation stützt, in der GKV gar nicht gilt. Das Gebot der gerechten Verteilung der Beitragslast, das Solidaritätsprinzip, aber sehr wohl.“

„Wie soll denn das gehen – die PKV-Versicherten auf einen Schlag in die sol. GV? Es muss doch Übergänge geben…“

Antwort: „Anders als Grüne und SPD, die den Wettbewerb zwischen GKV und PKV auch in der Bürgerversicherung aufrecht erhalten wollen, plädieren wir für eine geordnete Abwicklung der PKV als Vollversicherung zu einem Stichtag. Zusatzversicherungen für medizinisch nicht notwendige Leistungen (z. B. Einbettzimmer) bleiben erhalten. Die Einführung der Sol. GV führt dazu, dass es für die PKV-Versicherten und die Unternehmen wirtschaftlich nicht sinnvoll sein wird, die Verträge fortzuführen. Ohne Neuzugänge droht die sogenannte Vergreisung der Tarife – die Prämien explodieren. Das ist den PKV-Versicherten und den PKV-Unternehmen nicht zumutbar.

Eine automatische Beendigung der Altverträge per Gesetz würde einen Eingriff in die vertraglichen Rechte der PKV und der Versicherten bedeuten. Die PKV-Versicherten können aber ein Sonderkündigungsrecht erhalten, um in die Sol. GV zu wechseln. Der ursprüngliche Vertrag kann als Zusatzversicherung weitergeführt bzw. umgestaltet werden. Die Sol. GV mit Zusatzversicherung bietet mindestens den gleichen Schutz wie vorher die PKV, so dass den Versicherten kein Nachteil entsteht.

Eine vollständige Beendigung der Altverträge ist sinnvoll, um die PKV-Unternehmen von Ansprüchen aus diesen Verträgen freizustellen. Nur dann können die Alterungsrückstellungen in die Sol. GV überführt werden. Dies ist möglich als Zahlungsverpflichtung der PKV („Auflösungszahlungen“). Da die Verträge nicht mehr bestehen, sind die Rücklagen ohne Zweck und können aufgelöst und in Form von Zahlungsverpflichtungen an die Sol. GV fließen. Diese hat die PKV-Versicherten aufgenommen und trägt nun deren Altersrisiken. Dieser Vorgang ist für die PKV bilanzneutral.“ (Gutachten Prof. Bieback).

„Die Auflösung der Alterungsrückstellung bedeutet die Enteignung der PKV-Versicherten“

Antwort: „Alterungsrückstellungen sind Teil des Beitrags der PKV-Versicherten und gehen in das Vermögen des Unternehmens über. Sonst würden sie nicht in der Bilanz der PKV-Unternehmen erfasst. Auch bei einer Kündigung ihres Vertrages erhalten PKV-Versicherte die Alterungsrückstellungen nicht ausbezahlt. Das wurde höchstrichterlich damit begründet, dass eine individuelle Zuordnung der AR nicht bestehe. Es handelt sich also nicht um einen individuellen vertraglichen Anspruch, sondern um Rücklagen des Unternehmens. Als Eigentumsposition des PKV-Unternehmens sind die AR geschützt – allerdings schützt Art. 14 GG nicht vor der Auferlegung von Geldleistungen beim Übergang der PKV zur Sol. GV.“

„Die solidarische GV ist unvereinbar mit dem Eigentumsbegriff des GG, die Altersrückstellungen sind durch das GG geschützt!“

Antwort: „Nach der Rechtsprechung begründen die Altersrückstellungen keinen individuellen Anspruch auf eine bestimmte Geldsumme, sondern lediglich einen vagen Anspruch auf Beitragsermäßigung. Es handelt sich nicht mal um eine Anwartschaft. Dazu müsste es ein verbindliches Recht auf eine festgelegte Ermäßigung im Alter geben. Sie fallen also nicht unter den Eigentumsbegriff des Grundgesetzes. Die PKV fährt große Geschütze auf, um ihre Geschäftsinteressen langfristig zu sichern.“ (Gutachen Wiss. Dienste des Bundestags)

„Der PKV das Geschäft mit Vollversicherungen zu versagen, kommt einem Berufsverbot gleich!“

Antwort: „Das Grundrecht der Berufsausübung erfasst keinen Anspruch auf Sicherung zukünftiger Erwerbsmöglichkeiten und Gewinne. Ein Eingriff in das Berufsausübungsrecht ist nur gerechtfertigt, wenn es dem Zweck dient, nachweisbare oder höchstwahrscheinlich schwerwiegende Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut abzuwehren. Das BVerfG geht davon aus, dass die finanzielle Stabilität der gesetzlichen KV ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut darstellt.“ (Wiss. Dienste des Bundestags)

„Die Solidarische GV ist mit dem GG unvereinbar und verfassungsrechtlich bedenklich“

Antwort: „Wenn die Politik will, dann geht viel. Bisherige Eingriffe in das Geschäftsfeld der PKV wurden allesamt durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Diese Rechtsprechung des BVerfG bestätigt: Da ist Spielraum vorhanden. Die Einführung der Pflegeversicherung z. B. war nichts anderes als die Einführung einer Bürgerversicherung, weil die Soziale Pflegeversicherung (SPV) und private Pflegeversicherung (PPV) hinsichtlich Leistungen und Versichertenkreis gleichartig ausgestaltet wurden und sie alle Bürger*innen umfasst. Die Richter fanden diesen Schritt verhältnismäßig, da die Pflegeversicherung legitime Zwecke des Gemeinwohls verfolge. Der Gesetzgeber dürfe eine im Grundsatz alle Bürger*innen umfassende Volksversicherung einrichten, um die notwendigen Mittel für die Pflege Bedürftiger sicherzustellen. Analog gehen wir davon aus, dass eine finanzierbare Krankenversicherung für alle Menschen dem Sozialstaatsauftrag entspricht und als Solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung ausgestaltet werden kann.“

Alternative: „2005 kam das BVerfG zu dem Schluss, dass es grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liegt, den Mitgliederkreis der gesetzlichen Krankenversicherung festzulegen. Ein Kriterium ist die die Bildung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft. Ein anderes ist, welche Personengruppen Schutz benötigen. Nun haben sich in den letzten 30 Jahren Veränderungen in der Erwerbsstruktur ergeben. Die Lohnquote ist gesunken. Für den Erhalt des Solidarprinzips ist eine Erweiterung des Versichertenkreises dringend erforderlich. Schutz benötigen die vielen Menschen, die ihre Beiträge samt Zuzahlungen und Zusatzbeiträgen kaum noch zahlen können, z. B. viele Selbstständige oder Ältere. Die Sol. GV löst beide Problemfelder und entspricht dem Sozialstaatsgebot des GG.“

„Für die PKV gilt ein Sonderstatus"

Antwort: „Die PKV begründet ihren Sonderstatus damit, dass die bei ihr versicherten Personen (Gutverdienende, Selbstständige, Beamte) als „nicht schutzbedürftige Personen“ im Sinne des Sozialgesetzes gelten. Privat Versicherte unterliegen in dieser Logik nicht dem sozialversicherungsrechtlichen Gestaltungsauftrag des Staates, sondern dem Bereich des autonomen, verfassungsrechtlich geschützten Privat-versicherungsrecht. (Vertragsfreiheit und Risikoäquivalenz).

Doch in der PKV sind nicht nur Gutverdienende, sondern alle möglichen Berufs- und Einkommensgruppen vertreten: auch Student*innen, Arbeitnehmer*innen, Rentner*innen, Arbeitslose. Bei Selbstständigen und Beamten gibt es unterschiedliche Einkommensverhältnisse. Viele, vor allem Solo-Selbstständige verdienen weit unterdurchschnittlich. Privat Versicherte können durch plötzliche Arbeitslosigkeit, unerwartete Insolvenz, sonstige Einkommensverluste oder das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben schützenswert werden.

Der Gesetzgeber sieht durchaus Schutzbedürftigkeit der privat Versicherten und hat bereits vielfach in das Geschäftsfeld der PKV eingegriffen, um schlimme Folgen für die dort Versicherten abzufedern (Basistarif, Rückkehrrecht, allgemeine Versicherungspflicht, Einführung der verpflichtenden privaten Pflegeversicherung). Das ist ein Ausdruck der sozialpolitischen Verantwortung des Gesetzgebers für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.“

„Eine Beitragspflicht auf sämtliche Einkommensarten widerspricht der Finanzverfassung. Das wäre kein Sozialversicherungsbeitrag, sondern eine Steuer.“

Antwort: „Auch hier werden Nebelkerzen geworfen. Der Beitrag zur Sol. GV ist trotz der Steuerähnlichkeit ein Sozialversicherungsbeitrag, da er zweck- und anlassgebunden für einen konkreten Versicherungsfall in der Kranken- und Pflegeversicherung verwendet und durch eine von den Versicherten selbstverwalteten Körperschaft des öffentlichen Rechts verwaltet wird. Wie das Kind genannt wird, ist ohne Belang.“

„Beamtinnen und Beamte können nicht in die Solidarische Gesundheitsversicherung überführt werden“

Antwort: „Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes ist das System der Beihilfe keineswegs gesetzlich geschützt. Die im Grundgesetz gesicherte amtsangemessene Alimentation von Beamtinnen und Beamten muss lediglich die Kosten einer Krankenversicherung decken, die zur Abwendung krankheitsbedingter Belastungen erforderlich ist, soweit sie durch die Fürsorgepflicht des Dienstherrn nicht abgedeckt sind. Die Beihilfe kann grundsätzlich geändert und durch andere beamtenrechtliche Leistungen ersetzt werden.

Rechtlich ist es also möglich, Beamtinnen und Beamte in die Solidarische Gesundheitsversicherung einzubeziehen. Das kann durchaus sinnvoll sein. Nicht wenige Beamtinnen und Beamte sind unzufrieden, da die Beihilfeleistungen in Bund und Land seit Jahren gekürzt werden. Viele private Beihilfeergänzungsversicherungen erhöhen von Jahr zu Jahr die Prämien. Für die öffentlichen Haushalte ergeben sich Berechnungen für einzelne Bundesländer zu Folge Ersparnisse in Millionenhöhe, vor allem aufgrund der hohen Kosten für Ruheständler und Versorgungsempfänger*innen.“

„Gegen die Ärztelobby ist die Solidarische GV niemals durchsetzbar“

Antwort: „PKV, Ärztinnen und Ärzte laufen Sturm gegen die Sol. GV. Das Argument der Honorareinbußen durch den Wegfall privat Versicherter trifft mitten ins Herz, bzw. den Geldbeutel. Hier macht die PKV Stimmung. Wir nehmen die Ängste der Ärzt*innen durchaus ernst. Prof. Wasem prognostiziert Honorarausfälle für Mediziner*innen zwischen 4,6 und fast 6 Mrd. Euro jährlich bis zum Jahr 2030. Eine vollständige Kompensation entspräche einer Honorarerhöhung von bis zu 17 Prozent bis zum Jahr 2030. Das wäre durch die Sol. GV sicherlich finanzierbar. Die Frage ist, ob der Ausgleich der richtige Weg ist. Denn wir wollen keine Extrawürste für einzelne Berufsgruppen schaffen.

Eine solidarische Finanzierung ermöglicht eine gute Versorgung und eine angemessene Entlohnung der Beschäftigten. Das gilt auch für die freiberuflichen Gesundheitsberufe, Heilmittelerbringerinnen, auch für Ärztinnen und Ärzte. Eine umfassende Reform der Gebührenordnungen ist unser Ziel: Aufwertung der „sprechenden“ Medizin, der Allgemeinmedizin, der beratenden, therapierenden oder psychotherapeutischen Medizin zu Lasten der Apparatemedizin. So kann die Sol. GV als Katalysator für eine Wende im Gesundheitssystem wirken. Alle Fragen kommen auf den Tisch und werden neu gestaltet zum Wohle der Patientinnen und Patienten, der Behandlungsqualität und der Zufriedenheit der Behandelnden und Dienstleistungserbringerinnen.“

„Alles gut und schön – aber eurer Vorschlag ist überhaupt nicht umsetzbar!“

Antwort: Dazu ein Zitat von Christoph Butterwegge: „So genial die Idee der Bürgerversicherung als solche sei, meinen Kritiker, so wenig tauge sie zur Verwirklichung. Tatsächlich dürfte die Umsetzung des Konzepts aufgrund der herrschenden Macht- und Mehrheitsverhältnisse nicht leicht fallen. Dies gilt jedoch für alle Reformen, die mit der neoliberalen Hegemonie brechen. Seit wann aber ist von Problemen bei der Realisierung einer Idee auf deren Unrichtigkeit zu schließen? Wenn alternative Vorstellungen zur Reform des Sozialstaates überhaupt eine Chance haben, dann die Bürgerversicherung.“ Mehr dazu hier in der Machbarkeitsstudie zur BürgerInnenversicherung (PDF)

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