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Kanzlerin Merkel verbeugt sich am 7. Juli 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg vor dem türkischen Präsidenten Erdogan © picture alliance/Geisler-FotopressFoto: picture alliance/Geisler-Fotopress

Zeit gekauft, die Erdogan nutzt

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen, Frankfurter Rundschau,

Berlin muss seine Blockade gegen eine europäische Haltung zur neo-osmanischen Außenpolitik Erdogans aufgeben. Ein Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau von Sevim Dagdelen, Linken-Bundestagsabgeordnete und Obfrau der Fraktion im Auswärtigen Ausschuss.


Der Konflikt zwischen der Türkei auf der einen Seite sowie Griechenland und Zypern auf der anderen um die riesigen Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer ist durch die Vermittlung der Bundesregierung erst einmal vertagt. Doch eine dauerhafte Entschärfung scheint äußerst unwahrscheinlich.

Es wurde Zeit gekauft, und auch das ist in diesen Zeiten anzuerkennen. Es ist bemerkenswert, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan diese Zeit nutzt, um den nächsten Krieg in Europa vom Zaun zu brechen und dafür selbst den Absturz der türkischen Lira auf ein neues Rekordtief in Kauf nimmt.

Türkei soll Söldner eingeflogen haben: Bundesregierung für lockeren Umgang mit Erdogan verantwortlich

Die Türkei soll 4000 islamistische Söldner aus Syrien nach Aserbaidschan geflogen haben, um der Autokratie der Familie Alijew bei ihrem Angriff auf Berg-Karabach unter die Arme zu greifen. Für die Militäraktionen Aserbaidschans versichert der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu Baku die totale Unterstützung. Die Europäische Union aber ist gelähmt bei der Frage, wie mit Erdogan umzugehen ist. Und dafür trägt die Bundesregierung die Hauptverantwortung.

Während Griechenland und Zypern Konsequenzen für die Verletzung des Völkerrechts durch die türkischen Gaserkundungen in der Ägäis fordern, verhindert die Bundesregierung jedwede Maßnahme gegen Ankara. Waffen und Finanzhilfen sollen weiter fließen, so meint man Erdogan ruhig halten zu können.

Umgang mit Erdogan und der Türkei: Bundesregierung nimmt Spaltung der EU in Kauf

Das Interesse der Bundesregierung, den Autokraten nicht zu verärgern ist offenbar so groß, dass man selbst eine Spaltung der EU in außenpolitischen Fragen in Kauf nimmt. Zypern blockiert die vom Außenbeauftragten Joseph Borrell angekündigten Maßnahmen gegen Belarus, weil Deutschland gegenüber der Türkei auf ein „Weiter so“ setzt.

Die Frage nach der Haltung zu Erdogans Aggressionspolitik hat das Potenzial, die EU außenpolitisch in eine Nord- und Süd-Union zu zerteilen. Unter der Führung Frankreichs versammelten sich Griechenland, Zypern, Italien, Malta, Spanien und Portugal auf der französischen Mittelmeerinsel Korsika, weil sie sich der deutschen Dominanz in der EU und ihrer Willfährigkeit gegenüber dem Despoten am Bosporus entgegenstellen. Die EU als Instrument eines Interessensausgleich stößt damit gerade in der Krise zunehmend an Grenzen. 

Berlin aber setzt weiter auf die Allianz mit Erdogan. Da ist der Flüchtlingspakt, den man, koste es was es wolle, halten wird. Da ist das Ziel, die Türkei in der Nato zu halten, auch wenn Erdogan Krieg gegen die Kurden im eigenen Land führt und nahezu kein Tag vergeht, an dem nicht Oppositionspolitiker insbesondere der pro-kurdischen HDP verfolgt werden. Und da ist die Türkei als Profitcenter für die Direktinvestitionen deutscher Konzerne. Und obwohl Erdogan das Wasser bis zum Hals steht und seine auf Pump und Ausverkauf gründende Wirtschaftspolitik in die Krise gerät, kann er sich, wenn die Konflikte eskalieren, stets auf die Bundesregierung verlassen.

Flüchtlingspakt mit Erdogan halten: Koste es, was es wolle

Das Beispiel Türkei zeigt, dass bei der Bundesregierung von einer völkerrechtsbasierten und werteorientierten Außenpolitik keine Rede sein kann, mit schlimmen Konsequenzen für Europa und den Nahen Osten. Es sei nur an die Waffenlieferungen erinnert. Bei den Exporten von Kriegswaffen lag die Türkei in den vergangenen beiden Jahren in der Rangliste der Empfängerländer auf Platz 1 mit einem Volumen von zusammen mehr als einer halben Milliarde Euro.

Umgang mit Erdogan: Doppelte Standards der deutschen Außenpolitik

Der Umgang mit Erdogan steht beispielhaft für eine Politik der doppelten Standards der deutschen Außenpolitik, wie er in Europa auf immer mehr Widerstand stößt. Berlin erweckt durch seine Politik des Verständnisses den Eindruck, ein Bündnis mit Diktaturen und Autokratien, die die Opposition wegsperren und völkerrechtswidrige Kriege führen, sei so lange opportun, wie diese Staaten in westlichen Bündnissen eingebunden sind und die Interessen deutscher Konzerne gewahrt werden.

Es ist mehr als sonderbar, dass die Bundesregierung den Vorschlag des griechischen Außenminister Nikos Dendias nicht aufgriffen hat, den Streit um die Gasvorkommen in der östlichen Ägäis dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen zu lassen. Warum werden die Vereinten Nationen und internationale Gerichte beiseitegeschoben, wenn es gilt, diesen Streit friedlich zu lösen?

Es ist höchste Zeit, dass Berlin seine Blockade gegenüber einer gemeinsamen europäischen Haltung im Hinblick auf die neo-osmanische Außenpolitik Erdogans aufgibt. Die Zeit der Vermittlung hat bisher allein der türkische Autokrat genutzt, um weitere Aggressionen in Szene zu setzen. Es wäre fatal weiter Zeit zu kaufen, die allein Erdogan nutzt.
 

Frankfurter Rundschau,