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Wirksamer Kinderschutz als Herausforderung für den Sozialstaat

Nachricht,

Positionspapier der Bundestagsfraktion DIE LINKE. für einen verbesserten Schutz des Kindeswohls in der Bundesrepublik

Beschlossen am 28. November 2006

1) Am Anfang war Sozialabbau - Zu den Ursachen der gegenwärtigen Lage

Spektakuläre Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung haben eine richtige und wichtige Debatte um eine Stärkung des Kinderschutzes in der Bundesrepublik angestoßen. Schnell wurden Rufe nach mehr Kontrolle von wirklichen oder vermeintlichen „Risikofamilien“ laut. Laut fordern vor allem konservative PolitikerInnen sanktionsbewährte Verpflichtungen für Eltern ein. Eine Verengung der Debatte auf die Verantwortung von Eltern, wie sie gegenwärtig mit vermeintlichen Patentrezepten geführt wird, verstellt aber den Blick auf die eigentlich zentralen Ursachen der nicht zu leugnenden Defizite des Kinderschutzes. In diesem Zusammenhang ist vor allem von einem beschleunigten Sozialabbau zu reden, der sich gerade für Kinder und Jugendliche auf vielen Feldern besonders drastisch ausdrückt.

  • Die mit dem Namen Hartz verbundenen Arbeitsmarktgesetze der rot-grünen Bundesregierung haben unter dem Schlagwort der Flexibilisierung Hunderttausende von Eltern in ungesicherte Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse getrieben, in denen es ihnen sowohl an Zeit als auch an Geld für Familie mangelt.
  • Stigmatisierung und Prekarisierung beginnt schon im Kindesalter, wenn kein ausreichendes und zuverlässig verfügbares Einkommen existiert. 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren leben in der Bundesrepublik faktisch auf dem Armutsniveau von Hartz IV und damit auf einem Einkommensniveau, das sie von einer angemessenen sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt. Und oft vergessen: auch Jugendliche zwischen 18 und 25 zählen zu der am häufigsten von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppe.
    Die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Defizite beim Kinderschutz lenkt die Aufmerksamkeit auf eine dramatische Entwicklung der letzten Jahre, die schon zu lange am Rande der öffentlichen Wahrnehmung stand. Die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren bewährten Instrumentarien, die von der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit über Hilfen zur Erziehung bis zur Inobhutnahme von Kindern reichen, steht durch die Erosion der öffentlichen Haushalte unter einem überproportionalen Kürzungsdruck. Diese Entwicklung hat bislang vor allem Angebote der Kinder- und Jugendarbeit von Kommunen, freien Trägern und Verbänden getroffen. Der Personalmangel in den Jugendämtern hat aber auch im Bereich der Amtsvormundschaften und der Begleitung von Familiensachen zu erheblichen qualitativen Einschränkungen geführt, die in einem Gegensatz zu den steigenden Fallzahlen stehen. In Zahlen drückt sich dies in einem Rückgang der Maßnahmen der Kinder- und Jugendarbeit um 17% zwischen 2000 und 2004 aus. Nach Angaben des Kinderschutzbunds Sachsen werden dort inzwischen 200 Familien von einem/einer Jugendamtsmitarbeiter/in betreut. Aber wo es keine Angebote der Kinder- und Jugendhilfe gibt, hilft auch ein neues auch Frühwarnsystem nicht.
  • Leistungen für Familien blieben - entgegen der familienfreundlichen Rhetorik der Bundesregierung - ebenfalls nicht vom Rotstift verschont. Dies beginnt bei der Streichung von einmaligen Bedarfen bei Hartz IV - bis hin zur Babyerstausstattung und Babybekleidung (die erst nach 1 _ Jahren wieder in den Leistungskatalog aufgenommen wurde), den im europäischen Vergleich hohen Elternbeiträgen zur Kindertagesbetreuung und als aktuelles Beispiel der Benachteiligung von Alleinerziehenden, ALG-II-Empfänger/innen und Studierenden beim Elterngeld.

Zusammenfassend muss in der gegenwärtigen Debatte immer wieder die öffentliche Verantwortung für ein gesichertes Aufwachsen aller Kinder eingefordert werden. Denn solange Millionen von Menschen in die Randbereiche der Gesellschaft abgedrängt werden und sich zu Recht abgehängt fühlen, bleiben zwangsläufig auch ihre Kinder auf der Strecke.

2) Kein Generalverdacht gegen Frauen und Familien - Vorbeugender und dienstleistender Sozialstaat statt Kontrolle und Sanktion

Ein Generalverdacht wird der erdrückenden Mehrheit der Eltern nicht gerecht, die ihre Kinder nicht vernachlässigen sondern sie, trotz schwieriger ökonomischer Bedingungen, in ihrer Entwicklung fördern und liebevoll begleiten. Gegen Forderungen nach Beratungsangeboten, insbesondere bereits während der Schwangerschaft, spricht nichts, solange sie stets das Element der Freiwilligkeit betonen. Aus LINKER frauenpolitischer Perspektive, die sich auch der Tradition und den Forderungen der Frauenbewegung verpflichtet sieht, kann die Meldung einer festgestellten Schwangerschaft durch ihren Frauenarzt/ihre Frauenärztin an eine staatliche Instanz - ohne das Einverständnis der Schwangeren (!) - nicht toleriert werden. Eine der ältesten Forderungen der Frauenbewegung ist das Recht jeder Frau alleine über sich und ihren - ggf. schwangeren - Körper zu entscheiden! Schon im Zusammenhang mit den Debatten um den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuchs hat sich die PDS strikt dagegen gewandt, Frauen im Zusammenhang mit ihrer Gebärfähigkeit das Recht auf Selbstbestimmung zu verwehren. Die damals diskutierten und beschlossenen Pflichtberatungen wurden zu recht kritisiert, weil hinter einer Pflicht für Frauen, sich einer Beratung zu unterziehen, das Bild der per se unselbstständigen, unwissenden und ohne die Einflussnahme von Dritten potentiell unmündigen Frau steht. Wenn es darum geht, Frauen über mögliche soziale Hilfen zu informieren und ihnen bei Problemen zu helfen, muss dies durch ein flächendeckendes und plurales Beratungsangebot realisiert werden. Die dem Kinderschutz dienliche Beratung und Betreuung darf nicht im Sinne eines kontrollierenden Fürsorgestaates interpretiert werden. Die jüngst erhobenen Forderungen nach einem Zugriff der Jugendämter auf die Daten des Bundeszentralregisters und einer flächendeckenden Überprüfung von Eltern auf Vorstrafen lehnen wir strikt ab.

Die Bundesrepublik hat nicht in erster Linie ein Problem mit der mangelnden Kontrolle von „Risiko-Eltern“. Von den jetzt thematisierten Fällen war das Jugendamt in der Regel informiert. Ein zentrales Charakteristikum der modernen Kinder- und Jugendhilfe ist, dass sie im Interesse des Kindeswohls frühzeitig Angebote der Beratung und Unterstützung macht, aber nicht in erster Linie kontrolliert und sanktioniert. Damit hat sich der Gesetzgeber vom Fürsorgestaat klassischer Prägung bewusst abgehoben. Dieser zivilisatorische Fortschritt darf nicht preisgegeben werden. Die aktuell gebündelt auftretenden und thematisierten spektakulären Fälle von Kindesvernachlässigung bzw. Kindesmisshandlungen dürfen nicht ohne weiteres in den Kontext einer allgemeinen Vernachlässigungsdebatte gestellt werden, die Eltern ohne oder mit geringen Einkommen pauschal eine Neigung zur Vernachlässigung des Wohls ihrer Kinder unterstellt. Gefährdungen des Kindeswohls sind zum einen, wenn ein umfassender Begriff der Kindesvernachlässigung zugrunde gelegt wird, ein „schichten“-übergreifendes Problem. Für körperliche, kognitive, erzieherische und emotionale Vernachlässigung sowie für unzureichende Beaufsichtigung ist eine Vielzahl von Risikofaktoren verantwortlich. Die Ursachen sind aber zum geringsten Teil in den Elternhäusern zu suchen und viel öfter in gesellschaftlichen Verunsicherungsprozessen. Es muss deshalb deutlich unterschieden werden zwischen spektakulären Kapitalverbrechen, auf die an erster Stelle mit individueller Strafverfolgung zu reagieren ist, und der Aufgabe der Verbesserung des Kinderschutzes, die durch Prävention, Aufklärung und insbesondere durch Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Situation von Kindern bewältigt werden muss.

DIE LINKE. bekennt sich zur Verantwortung der öffentlichen Hand für den Schutz und das Wohl aller in der Bundesrepublik lebenden Kinder. Leitbild des Kinderschutzes muss ein vorbeugender und dienstleistender Sozialstaat sein. In Übereinstimmung mit der UN-Kinderrechtskonvention und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz halten wir es für ein verpflichtendes Gebot, dass alle Kinder das Recht auf umfassende Förderung haben und an Bildung und Erziehung in Gemeinschaft mit anderen Kindern auf freiwilliger Grundlage teilhaben können. Das gesicherte Aufwachsen ist ein Menschenrecht, das unabhängig vom Geldbeutel der Eltern und unabhängig von deren Möglichkeiten, Betreuung, Bildung und Erziehung selbst umfassend zu gewährleisten, realisiert werden muss. Wir sprechen uns für einen Sozialstaat aus, der gegenüber Kindern und Familien mit möglichst wenig Sanktionsdrohungen und Pflichten auskommt, und der stattdessen durch bedarfsdeckende Sozialleistungen sowie durch zuverlässige und beitragsfreie Infrastrukturangebote das Kindeswohl sichert. Die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung würde eine Sozialpolitik einschließen, die die millionenfache Kinderarmut in die Geschichtsbücher verbannt. Sie würde den Erhalt und den Ausbau der öffentlich verantworteten Kinder- und Jugendhilfe als Teil des vorbeugenden und dienstleistenden Sozialstaates vorantreiben. Dies schließt die Entwicklung neuer kinder- und jugendpolitischer Instrumente und Vernetzungsstrategien nicht aus. An erster Stelle muss aber die Stärkung existierender und bewährter Instrumente im Fokus stehen.

Die Vermeidung eines Generalverdachts spricht aber nicht gegen ein Nachdenken über die Verbesserung der Möglichkeiten der Jugendämter, Kinderärztinnen und -ärzte und Betreuungspersonen, bei konkretem Verdacht auf Vernachlässigung tätig zu werden. Zentral für die optimalen Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern ist aber der Ausbau unterstützender Angebote der Kinder- und Jugendarbeit und der Zugang zu frühkindlicher Bildung in Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch der 7. Familienbericht der Bundesregierung setzt sich mit dem notwendigen Ausbau im Bereich der präventiven Kinder- und Jugendarbeit auseinander. Die dort festgestellten Bereiche, in denen ein Ausbau des Angebots für Kinder, Jugendliche und Familien für notwendig erachtet wird, sind vielfältig, sie reichen von der gezielten Frühförderung über eine verlässliche Begleitung und Unterstützung in der Schulzeit bis hin zu Beratung zu sozialstaatlichen Angeboten (insbesondere Wohngeld und angemessenem Wohnraum für Familien) und der Einbindung in sozialräumliche Betreuungsnetzwerke. Dies, so die richtige Schlussfolgerung des Berichts, ist besonders für Familien wichtig, die (oft trotz Vollzeit-Erwerbstätigkeit) unter der Armutsgrenze leben. Mehr Verbindlichkeit sowie inhaltliche und strukturelle Veränderungen bei den Vorsorgeuntersuchungen für Kinder kann ebenfalls ein Mittel zur Stärkung des Kinderschutzes sein. Sie dürfen aber nicht isoliert als Elternpflicht implementiert sein, weil so die im Fokus stehenden spektakulären Fälle in der Regel auch kaum zu erreichen sind. Die zunehmende Ersetzung der sozialstaatlich ausgerichteten Jugendhilfe durch ein kontrollierendes Fürsorgesystem erhöht die Kooperationsbereitschaft der Familien insgesamt nicht und verstärkt stattdessen die Marginalisierungseffekte. Der Kinderschutz wird am besten dadurch gestärkt, dass die Orte, an denen sich Kinder aufhalten, in ihrer Bedeutung gestärkt und für eine entsprechende Vorsorge genutzt werden. Dazu zählen neben dem Elternhaus Kindertagesstätten und Schulen, aber auch Freizeitorte. Die Vernetzungsbemühungen müssen hier ansetzen.

3) Wege zur Stärkung des Kinderschutzes in der Bundesrepublik

a) Kinderrechte in der Verfassung verankern
Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention hat sich die Bundesrepublik verpflichtet, Kindern und Jugendlichen zu garantieren, dass sie als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde sowie auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben. Die Rechte von Kindern und Jugendlichen als Grundrechtsträger und eigene Rechtspersönlichkeiten sollten in diesem Sinne in das Grundgesetz aufgenommen werden.

b) Kampf gegen die Kinderarmut - Kindergrundsicherung
Die Kinderarmut als zentrale Herausforderung ist durch die Einführung einer bedarfsorientierten und individuellen Kindergrundsicherung zu bekämpfen. Die Eckpunkte der LINKEN. hierzu liegen vor.

c) Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe
Die vorgenommenen Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe müssen durch eine Gemeinschaftsanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen rückgängig gemacht werden. Ein Schwerpunktprogramm in Höhe von 100 Mio. Euro jährlich würde die Einsparungen der letzten Jahre zumindest teilweise kompensieren. In diesem Zusammenhang muss die Kinder- und Jugendhilfe durch einen öffentlichen und fachlichen Diskurs gestärkt und weiterentwickelt werden. Standards für die Ausstattung und Qualität der Angebote müssen entwickelt und umgesetzt werden.

d) Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung
Die Kindertagesbetreuung in öffentlicher Verantwortung muss flächendeckend, elternbeitragsfrei und bedarfsgerecht vorgehalten werden. Ein Rechtsanspruch muss für jedes Kind ab Geburt verankert werden.

e) Stärkung der Schulsozialarbeit
Die Schulsozialarbeit muss insbesondere im Rahmen des Ganztagsschulausbaus gestärkt und als flächendeckendes Angebot verankert werden.

f) Verbesserung des Qualifikationsniveaus von ErzieherInnen
Eine Verbesserung des Kinderschutzes durch bessere Qualifikation der ErzieherInnen setzt eine allgemeine Anhebung der Qualifikation von ErzieherInnen auf Hochschulniveau voraus.

g) Recht auf Gesundheit im Bürgerlichen Gesetzbuch verankern
Der vom Kinderschutzbund gemachte Vorschlag einer Verankerung des Rechts auf Gesundheit im BGB (inkl. Vorsorgeuntersuchungen) ist zu begrüßen, weil er den Bereich der gesundheitlichen Prävention in die Jugendhilfe integriert (was im Einzelfall im Sinne des Schutzauftrags auch die Anordnung von Vorsorgeuntersuchungen einschließen kann) und das Recht auf Gesundheit ohne straf- und ordnungsrechtliche Sanktionen normativ verankern würde.

h) Mehr Vernetzung zwischen den Akteuren des Kinderschutzes
Die Akteure des Kinderschutzes, neben den Eltern vor allem die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, des Bildungs- und des Gesundheitssystems, müssen stärker als bisher ihr Handeln vernetzen:

  • In diesem Zusammenhang sind zunächst flächendeckende Beratungsbesuche durch SozialarbeiterInnen bei Familien mit neu geborenen Kindern anzustreben, wie sie in einigen Kommunen bereits mit Erfolg durchgeführt werden;
  • Die so genannten Elternbriefe sollten ebenso als flächendeckendes Angebot verankert werden;
  • Nicht absolvierte Vorsorgeuntersuchungen von Kindern müssen durch die Krankenkassen verbindlich an die Jugendämter gemeldet werden;
  • Kindertagesstätten und Ganztagsschulen müssen regelmäßig durch KinderärztInnen und SozialarbeiterInnen besucht werden.

i) Lokale Angebote stärken - Kompetenzen im Kinderschutz bündeln
Weiterhin müssen niedrigschwellige Angebote im sozialen Nahraum, die verschiedene Aspekte sozialer Hilfen und Vernetzung verbinden, geschaffen werden. Ein Investitionsprogramm in lokale Netzwerke und Orte sollte statt Kontrolle Information und Beratung bieten und die Stärkung bestehender Hilfestrukturen sowie die Entwicklung neuer sozialer Angebote für Kinder, Eltern und Familien bieten. Eine Bündelung und flächendeckende Vernetzung von freiwilligen Beratungs-, Betreuungs- und Aufklärungsangeboten für Familien nach skandinavischem Vorbild ist anzustreben. In diesem Zusammenhang sollten aber nicht nur die Familien Objekt von Beratung und Betreuung sein, sondern alle Orte, an denen Kinder sich regelmäßig aufhalten.