Der Chef der Linkspartei möchte lieber opponieren als regieren. Wer Hartz IV nicht rückgängig machen will, scheidet für ihn als Koalitionspartner aus.
Rheinischer Merkur: Herr Lafontaine, in Ihrem Büro hängt ein Foto von Papst Benedikt XVI. Was wollen Sie damit sagen?Oskar Lafontaine: Das hat mir ein Zuhörer auf einer Wahlveranstaltung geschenkt. Für mich drückt es aus, dass die christliche Soziallehre und Programme der Linken in vielem übereinstimmen.
RM: Die christliche Soziallehre spricht von der Selbstverantwortung des Einzelnen, Sie reden vom Kollektiv. Das ist etwas anderes.
Lafontaine: Die Verantwortung des Einzelnen ist in den letzten Jahren überdehnt worden. Ich habe in meiner Studentenzeit gelernt, dass das Christentum die Religion der Nächstenliebe ist. Früher war Verantwortung eine soziale Kategorie. Der Starke fühlte sich für den Schwachen, der Gesunde für den Kranken verantwortlich. Das ist im Zuge des Neoliberalismus alles verloren gegangen. Heute heißt es: Jeder sorge für sich.
RM: Benedikt würde die Linke wählen?
Lafontaine: Das unterliegt dem Wahlgeheimnis. Aber es gab keinen schärferen Kritiker des Kapitalismus als Papst Johannes Paul II. Der hat einmal gesagt: „Die menschlichen Defizite dieses Wirtschaftssystems, das die Herrschaft der Dinge über die Menschen festigt, heißen Ausgrenzung, Ausbeutung und Entfremdung.“ Schärfer könnte es die Linke auch nicht formulieren.
RM: Helmut Schmidt hat immer zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterschieden. Kann man mit der Bergpredigt Politik machen?
Lafontaine: Die Bergpredigt ist selbstverständlich keine Handlungsanweisung. Aber Politik ohne ein ethisches Fundament ist beliebig. Deshalb fordern wir beispielsweise einen Mindestlohn, von dem die Menschen würdig leben können. Die Menschenwürde ist Grundlage unserer Politik.
RM: Ist es denn ethisch zu verantworten, zur Finanzierung all Ihrer Forderungen die nächste Generation mit Schulden zu belasten?
Lafontaine: Wir haben immer darauf hingewiesen, dass Wirtschaftswachstum die Haushalte saniert. Das wird gerade wieder einmal bestätigt. Dazu brauchen wir eine höhere Steuer- und Abgabenquote, wie sie dem europäischen Durchschnitt entspricht. Dann hätten die öffentlichen Kassen in Deutschland 140 Milliarden Euro mehr pro Jahr. Man kann sich aus den Schulden nicht heraussparen, man kann nur aus ihnen herauswachsen.
RM: Aber die Wirtschaft wächst doch. Außerdem sinkt die Arbeitslosigkeit und der Haushalt soll 2011 ohne neue Schulden auskommen. Wollen Sie bestreiten, dass die Große Koalition Erfolge vorzuweisen hat?
Lafontaine: Das interessiert 90 Prozent der Menschen wenig. Dass die Konjunktur läuft und Schulden abgebaut werden, kommt bei ihnen nicht an. Die Arbeitnehmer, die Rentner und die Empfänger sozialer Leistungen sind vom Wohlstandszuwachs ausgeschlossen. Diese Umverteilung von unten wird fortgesetzt - durch den Mehrwertsteuerbetrug und die Milliardengeschenke an Unternehmen.
RM: SPD-Chef Kurt Beck hat einen Deutschlandfonds vorgeschlagen, durch den Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt werden. Das müsste Ihnen gefallen ...
Lafontaine: Diese Überlegungen hatten früher ihre Berechtigung. In einer Zeit sinkender Reallöhne ist die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen nur ein Einfallstor für Unternehmer, das Risiko auf die Belegschaft abzuwälzen. Die beste Beteiligung der Arbeitnehmer am Gewinn sind immer noch höhere Löhne.
RM: Sie führen - wie Sie sagen - einen „Feldzug“ gegen die Führung der Sozialdemokraten. Das klingt ziemlich martialisch?
Lafontaine: Ich führe keinen Feldzug gegen die SPD. Ich bekämpfe die gegenwärtige Politik insgesamt. Nicht nur die SPD, auch CDU/CSU, FDP und Grüne sind Hartz-IV- und Kriegsparteien.
RM: Ihr Kampf ist allerdings in Bezug auf die SPD besonders erfolgreich, deren Umfragewerte immer weiter sinken. Empfinden Sie Freude darüber?
Lafontaine: Ich fühle mich den SPD-Mitgliedern nach wie vor verbunden, die in ihrer Mehrheit die Politik der Linken befürworten. Die Verluste der SPD an Wählern und Mitgliedern haben bislang zu keiner Kurskorrektur geführt. Ich kann das nur bedauern und hoffe, dass die SPD sich wieder auf ihre Grundsätze besinnt.
RM: Sehen Sie es als Ihre Mission an, die SPD als Volkspartei zu zerstören?
Lafontaine: Unsere Ziele sind klar: Wir wollen eine armutsfeste Rente, den gesetzlichen Mindestlohn und sind gegen die Beteiligung der Bundeswehr an völkerrechtswidrigen Kriegen. Das ist einfach und verständlich. Diejenigen, die sich diesen Zielen verweigern, sind selbst verantwortlich für ihre Wahlniederlagen.
RM: Wenn die SPD nach links rückt, haben Sie Ihre Schuldigkeit getan?
Lafontaine: Ich kann nicht erkennen, dass sich die SPD wirklich bewegt. Denken Sie nur an die Kriege in Afghanistan und im Irak. Wir werden noch viel zu tun haben, bis wir die notwendigen Veränderungen in Deutschland durchgesetzt haben.
RM: Veränderungen durchsetzen kann man am besten in der Regierung. Aber selbst im Osten sind Sie nur noch in Berlin in einer Landesregierung vertreten. Wo ist Ihre Machtperspektive?
Lafontaine: Auch aus der Opposition heraus kann Politik gemacht werden. Wir verändern die deutsche Politik, weil die anderen Parteien auf uns reagieren. Manchmal kann man mit Opponieren mehr erreichen als mit Regieren. Die Linke muss aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen: Eine Regierungsbeteiligung stärkt sie nur dann, wenn sie eigene Ziele durchsetzt. Wenn das nicht der Fall ist, verliert sie.
RM: Wenn Sie nicht 100 Prozent durchsetzen können, bleiben Sie lieber in der Opposition?
Lafontaine: Natürlich braucht die Demokratie Kompromisse. Aber die dürfen nicht zur Unkenntlichkeit führen. Die Enteignung der älteren Arbeitnehmer durch Hartz IV muss rückgängig gemacht, der Bundeswehreinsatz in Afghanistan beendet werden. Wer dazu nicht bereit ist, scheidet für uns als Partner aus.
Das Gespräch führten Robin Mishra und Peter Pragal.
Rheinischer Merkur, 12. Juli 2007