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Foto: Rico Prauss

»Wir müssen die Erpressung angreifen«

Nachricht von Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht,

 

 

 

Antrag auf ESM-Darlehen, „Reformliste“ und „Einigung“ auf Euro-Gipfel – Politische Bewertung von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch

 

 

 

 

 

Wer für „Nein“ geworben hat, kann jetzt nicht „Ja“ sagen

Die griechische Bevölkerung hat trotz erpresserischer Bargeldverknappung und Grexit- Angstkampagne eindrucksvoll ihren Willen in dem Referendum zum Ausdruck gebracht: „Nein“ zum vergifteten Angebot der Institutionen, „Nein“ zu weiteren Reallohnkürzungen durch drastische Mehrwertsteuererhöhungen, „Nein“ zu weiteren Rentenkürzungen und „Nein“ zur weiteren Verschleuderung öffentlichen Vermögens.

Statt dieses demokratische Votum zu akzeptieren und ihre gescheiterte Krisenpolitik zu überdenken, haben Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und die Europäische Zentralbank (EZB) die Regierung in Athen in den Tagen nach dem Referendum weiterhin gnadenlos erpresst. Die alte Troika signalisierte, dass die EZB nur bei einer „Einigung“, die de facto einer Kapitulation der griechischen Regierung gleichkäme, die griechischen Banken wieder mit Liquidität versorgen würde. Erst mit neuer Liquidität könnten die Banken wieder öffnen.

Bei den Primärüberschüssen im Haushalt und Privatisierungen war die griechische Regierung bereits vor dem Referendum weitgehend auf das „Angebot“ der Institutionen eingegangen. In kompletter Ignoranz der demokratischen Willensäußerung verlangten die Gläubiger nach dem Referendum ultimativ von der griechischen Regierung bis zum 9.7.2015, noch weiter nachzugeben und ein neues „Reformpaket“ vorzulegen. Andernfalls hätte ein Antrag auf Finanzhilfe beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der zuvor von der griechischen Regierung eingereicht worden war, keine Chance.

Die daraufhin von der griechischen Regierung vorgelegte Liste, die das griechische Parlament inzwischen mit Stimmen der Opposition als Verhandlungsgrundlage gebilligt hat, entspricht in allen zentralen Fragen – Höhe der Primärüberschüsse, Mehrwertsteuererhöhungen, Rentenkürzungen und Privatisierungen – exakt dem „Vorschlag“ der Institutionen, den 61 Prozent der Griechen im Referendum abgelehnt hatten.

Dass Schäuble und anderen selbst das immer noch nicht ausreichte, zeigt die sogenannte Einigung vom Wochenende.

Bis zum bitteren Ende folgte Erpressung auf Erpressung

Bereits vor dem Gipfelwochenende hatte die griechische Regierung sehr weitgehende Zugeständnisse gemacht. Das geplante Einnahmeplus durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer (auf 23 Prozent für die meisten Produkte, für die vorher der ermäßigte Satz von 13 Prozent gegolten hatte) ist mit einem Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) jetzt genau so hoch wie von den Gläubigern verlangt. Zum Vergleich: Auf
Deutschland übertragen würden dem Mehreinnahmen von 25 Milliarden Euro durch 
Erhöhung von Verbrauchssteuern entsprechen, eine spürbare Verteuerung, die vor allem Ärmere am härtesten träfe. Die Abschaffung des Mehrwertsteuerrabatts für die meisten Inseln und sogar der hohe Mehrwertsteuersatz für Restaurants werden in der neuen griechischen „Reformliste“ akzeptiert. Außer Grundnahrungsmittel werden auch alle Lebensmittel von dem neuen Satz von 23 Prozent betroffen sein. Lediglich Hotels sollen noch in den Genuss des mittleren Mehrwertsteuersatzes von 13 Prozent kommen. Diese Maßnahmen verteuern nicht nur die Lebenshaltungskosten der Bevölkerung erheblich, sondern bedeuten mehr Armut
 und eine erneute Strangulierung der Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Auch der einzige noch halbwegs florierende Wirtschaftszweig, die Tourismusbranche, wird durch sie getroffen.

Bei den Renten bleibt es bei der Einführung der Rente mit 67 und der Verringerung der Möglichkeit für die Frühverrentung, obwohl letztere quasi als Ersatzsozialhilfe fungiert. Die Erhöhung der Beiträge für die Gesundheitsversorgung von 4 auf 6 Prozent bedeuten eine faktische Rentenkürzung von mindestens 2 Prozent für alle Rentner (durch Einbeziehung der Zusatzrenten für viele sogar noch mehr). Zusätzlich getroffen werden Bezieherinnen und Bezieher der bisherigen Solidarrente, die bis 2019 schrittweise abgeschafft werden
soll. Insgesamt sollen sich die Rentenkürzungen bereits 2015 auf 0,25 bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und nächstes Jahr sogar auf 1 Prozent des BIP belaufen. Auch bei den Renten wurde der „Vorschlag“ der Institutionen damit vollständig übernommen.

Die Unternehmenssteuern werden nun, wie von den Institutionen verlangt, nur auf 28 anstatt auf 29 Prozent angehoben. Die Sonderabgabe für Unternehmen mit über 500 000 Euro Jahresgewinn ist vom Tisch.

Obwohl selbst vom IWF ein Schuldenschnitt gefordert wird und Ex-Finanzminister
Yanis Varoufakis diesen noch vor wenigen Wochen zur Bedingung für eine Vereinbarung gemacht hatte, ist von einem Schuldenschnitt im Paket der griechischen Regierung nichts zu finden. In dem Brief vom 8.7. an den ESM, in dem der Finanzhilfeantrag gestellt wird, heißt es lediglich, dass Griechenland auf Maßnahmen als Ergebnis einer „breitere Diskussion“ hofft, durch welche die griechischen Schulden wieder nachhaltig werden. Ähnliche Formulierungen hatten auch frühere Vereinbarungen mit Griechenland enthalten, ohne dass dem jemals Konsequenzen folgten.

Es gibt kein Investitionsprogramm in Höhe von 35 Milliarden Euro, sondern nur einen unverbindlichen Hinweis auf bestehende EU-Investitionstöpfe.

Alexis Tsipras soll vor dem Parlament gesagt haben, dass diese Liste nicht im Einklang mit Syrizas Wahlversprechen steht. "Das Sparprogramm ist selbstmörderisch", sagte Energieminister Panagiotis Lafazanis.

Trotzdem sah sich Alexis Tsipras auf dem Gipfeltreffen genötigt, weitere Zugeständnisse zu machen. Unter anderem sollen zentrale Punkte der oben genannten Forderungen bis Mittwoch, den 15.7.2015, im Eilverfahren durch das griechische Parlament gepeitscht werden. Darüber hinaus wurde die griechische Regierung gemäß der Erklärung des Euro-Gipfels vom 12.7.2015 zu folgenden „Mindestanforderungen“ verpflichtet, ohne die Verhandlungen über einen ESM-Kredit nicht aufgenommen werden:

  • Kompletter Ausverkauf des Staatseigentums durch die Schaffung eines unabhängigen Privatisierungsfonds (Treuhandanstalt 2.0) unter Aufsicht europäischer Organe, dessen Erlöse während der Kreditlaufzeit 50 Milliarden Euro bzw. knapp 30 Prozent des aktuellen BIP erreichen sollen.
  • Verpflichtung zu weiteren Kosteneinsparungen in der griechischen Verwaltung gemäß einem mit den Institutionen vereinbarten Zeitplan.
  • Komplette Rückkehr der Institutionen nach Griechenland (Konsultierung bei jedem Gesetzentwurf in relevanten Bereichen, ehe die Öffentlichkeit informiert oder das Parlament befasst wird).
  • Massive Deregulierung auf den Gütermärkten (u.a. verkaufsoffene Sonntage, Eigentum an Apotheken, Milch und Bäckereien sowie die Öffnung von „makroökonomisch relevanten geschlossenen Berufen (z.B. Fährbetrieb)“.
  • Privatisierung des Stromübertragungsnetzbetreibers
  • Deregulierung der Arbeitsmärkte durch eine „tiefgreifende Überprüfung und Modernisierung der Verfahren für Tarifverhandlungen, Arbeitskampfmaßnahmen und, im Einklang mit den einschlägigen Richtlinien und bewährten Verfahren der EU, Massenentlassungen nach dem mit den Institutionen vereinbarten Zeitplan und Ansatz“.
  • Rücknahme von Rechtsvorschriften der letzten fünf Monate – mit Ausnahme von Maßnahmen gegen die humanitäre Krise -, die im Widerspruch zur Vereinbarung vom 20.2.2015 und früheren Programmauflagen stehen. 
Außerdem wird betont, dass es keinen Schuldenschnitt geben wird. Stattdessen findet sich lediglich der Verweis auf die angedeutete Möglichkeit aus dem November 2012, nach der eine weitere Streckung der Rückzahlungsfristen bestehen könnte. 
Der Finanzierungsbedarf wird für die dreijährige „Programmlaufzeit“ auf 82 bis 86 Milliarden Euro veranschlagt. Darunter rund 10 bis 25 Milliarden Euro für die Rekapitalisierung der griechischen Banken. In der „Programmlaufzeit“ würde eine weitere Milliarde Euro von privaten Gläubigern auf die europäischen Steuerzahler übertragen werden.

Fazit

Das Verhalten der Gläubiger – insbesondere der Bundesregierung – hat der Demokratie in Europa einen schweren Schaden zugefügt, weil der im Referendum zum Ausdruck gebrachte Wille der griechischen Bevölkerung durch Erpressung gebrochen wurde. Das sogenannte Verhandlungsergebnis vom Euro-Gipfel am 12.7.2015 läuft auf die Fortsetzung des fatalen Giftcocktails von Kürzungspolitik und sich verschärfender Wirtschaftskrise hinaus, der in den letzten Jahren ein Viertel der griechischen Wirtschaftskraft zerstört und die griechischen Schulden immer weiter erhöht hat. Die griechische Tragödie ginge so erneut in die Verlängerung. Das rund 85 Milliarden Euro schwere Griechenland-III-Kreditpaket, für das wieder die europäischen Steuerzahler haften sollen, dient im Wesentlichen erneut nur dazu, alte Schulden mit neuen Schulden zu bezahlen. Es wird absehbar selbst dafür nicht ausreichen, da – wie der IWF inzwischen unumwunden zugibt – die zugrunde liegenden Wachstums- und Überschussannahmen viel zu optimistisch sind. Man könnte sarkastisch sagen: weil es selbst dazu beiträgt, dass sich Wachstum in der griechischen Wirtschaft in den nächsten Jahren wohl kaum einstellen wird. Auch gibt es aus anderen Ländern einschlägige Erfahrungen, dass Mehrwertsteuererhöhungen in einer Krise die Einnahmen aus dieser Steuer oft sogar senken, weil der Effekt der Nachfragestrangulierung den Einnahmeeffekt überwiegt.

Statt neuer Giftlisten, die die Leistungsfähigkeit der griechischen Wirtschaft weiter
ruinieren, braucht Griechenland die Klärung der Schuldenfrage z.B. durch einen Schuldenschnitt, wie Deutschland ihn nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten hat. Und statt einer weiteren Verschleuderung öffentlichen Vermögens durch Privatisierungen, die den Staat immer ärmer machen, braucht Griechenland eine Vermögensabgabe zulasten seiner Oligarchen, um die öffentliche Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Nur mit einem grundlegenden Kurswechsel weg von der Kürzungspolitik kann die griechische Wirtschaft reanimiert, der Sozialstaat wieder hergestellt und letztlich auch der Schaden für die europäischen Steuerzahler minimiert werden.

Wer beim Referendum für ein „Nein“ war, um weiteren Kürzungsdiktaten eine Absage zu erteilen, kann jetzt nicht „Ja“ sagen!

Dass Syriza diesem Diktat trotzdem zustimmt, ist nicht ihr freier Wille. Wir müssen die Erpressung, die insbesondere seitens der deutschen Regierung stattgefunden hat, angreifen und in ihren verheerenden Wirkungen – auch für die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – attackieren.

 

linksfraktion.de, 14. Juli 2015