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»Wir brauchen eine neue Ära der Solidarität«

Interview der Woche von Dagmar Enkelmann, Jan Korte,

Die Schlagzeilen werden täglich schriller. Die ungelöste Euro-Krise verändert Wirtschaft und Gesellschaft. Die Demokratie gerät ins Abseits. Über den Zustand der Demokratie sprachen wir mit Dagmar Enkelmann, 1. Parlamentarische Geschäftsführer und Sicherheitsbeauftragte der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, und Jan Korte, Datenschutzbeauftragter der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. Dagmar Enkelmann fordert statt wirtschaftlichem Gegeneinander in Europa ein solidarisches Miteinander. Jan Korte will für eine andere Politik nach neuen Mitstreiterinnen und Mitstreitern und Bündnispartnern suchen. 


Raus aus Afghanistan, für Mindestlohn, keine Rente mit 67 – die Mehrheit der Bevölkerung ist für diese politischen Ziele. Wie lange kann Frau Merkel noch gegen diesen Willen regieren?   Dagmar Enkelmann: Sie trägt dem Willen - wenn auch viel zu langsam und offensichtlich widerwillig - schon Rechnung. So zeigt die Diskussion um den Mindestlohn in der Union, dass die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung dort nicht spurlos vorübergeht. Der Druck auf die Union und die Kanzlerin bei diesen Themen darf aber nicht nachlassen – er muss, im Gegenteil, steigen.    Stichwort Glaubwürdigkeit des Parlaments: Immer wieder machen Nachrichten Schlagzeilen, dass Lobbyisten hinter den Kulissen der Parlamente die Strippen ziehen. Gesetzesentwürfe stammen mitunter aus ihrer Feder. Bürgerinnen und Bürger haben manchmal den Eindruck, der Filz bestimmt die Politik. Wie steht es um die demokratische Willensbildung? 
Jan Korte: Nicht zum Besten, soviel steht fest. Die Linke steht deshalb für die konsequente Demokratisierung der Politik. Der Lobbyismus geht ja so weit, dass die wirtschaftlich Mächtigen direkt an Gesetzen mitschreiben. Die Stromkonzerne diktieren Merkel ihre Bedingungen bei einem Glas Rotwein. Im Bereich der Innenpolitik ist nach dem 11.9. 2001 sogar ein kaum durchschaubarer "sicherheitsindustrieller Komplex", bestehend aus Sicherheitsfirmen, Forschung, Vertretern von Sicherheitsbehörden und Innenpolitikern, entstanden. Hier ist dringend Umkehr angesagt: Mehr Transparenz, mehr Kontrolle und mehr Demokratie - auch und gerade in der Wirtschaft.
  Der letzte Castor-Transport dauerte am längsten, war vermutlich der teuerste und brutalste. Haben wir es mit einem Ritual zu tun, das vor allem viel Geld kostet, aber keine politischen Konsequenzen zeitigt?    Dagmar Enkelmann: Der Widerstand hat ja inzwischen eine entscheidende Konsequenz nach sich gezogen: den Atomausstieg in der Bundesrepublik. Und es ist gut, dass die Aktivitäten der Anti-Atom-Bewegung nicht nachlassen. Es gilt, den Ausstieg noch zu beschleunigen und den Querschüssen der Stromkonzerne die Stirn zu bieten. Die Suche nach einem Endlager muss endlich wirklich transparent und unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger erfolgen, sonst ist Gorleben bald überall.    Gegen den Bau von Stuttgart 21 erhebt sich seit über einem Jahr wütender Protest. Nach Schiedsverfahren stand ein Bürgerentscheid an, bei dem am Ende die dahin schweigende Mehrheit den Ausschlag gab. Alles demokratisch gelaufen oder doch eher scheindemokratisch? 

Jan Korte: DIE LINKE kämpft für direkte Demokratie auf allen Ebenen. Und natürlich wird es immer auch Entscheidungen geben, die wir LINKEN anders sehen. Das Ergebnis zu Stuttgart 21 ist bitter, trotzdem müssen wir es akzeptieren. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass man dann nicht weiter kämpft, die Argumente dagegen bleiben ja richtig. Wichtig ist aber, bei Volksentscheiden die Quoren so zu senken, dass es realistische Chancen für eine wirkliche Entscheidung gibt. Und selbstverständlich müssen diese am Beginn von Großprojekten stehen und nicht erst dann stattfinden, wenn die Bürger wie bei Stuttgart 21 nur noch über Fakten entscheiden können, die schon geschaffen worden sind. Wir wollen ja direkte Demokratie zu einem praktikablen Alltagsinstrument machen.   Ein Vorwurf gegen die Grünen als Gegner von S21 lautet, dass sie auf die Volksabstimmung als quasi demokratisches Feigenblatt gesetzt haben, damit sie dann als Regierungspartei in Baden-Württemberg das Baurecht der Bahn durchsetzen können. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann verkündete das sogar wenige Tage vor dem Bürgerentscheid. Haben die Grünen ihren Frieden mit den Verhältnissen geschlossen?

Jan Korte: Die Grünen haben sich als linke Alternative gegründet. Davon ist kaum etwas übrig geblieben: Sie befürworten Kriege und haben an der Demontage des Sozialstaats entschieden mitgearbeitet. Die Grünen sind die FDP für Bionadetrinker. Ganz offensichtlich ist es ihnen aus dem Regierungssessel heraus auch nicht sonderlich gut gelungen, einen überzeugenden Protest zu mobilisieren.   Das Spektakel ist vorbei, das Politikum Stuttgart 21 bleibt: Welche Lehren müssen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit Blick auf andere Großprojekte ziehen?    Dagmar Enkelmann: Zu fragen ist, ob die heutigen Formen der Bürgerbeteiligung noch angemessen und zeitgemäß sind. Es ist ein Unding, dass bei einem Projekt, das vor 15 Jahren beschlossen wurde, das Planfeststellungsverfahren nicht noch einmal aufgerollt werden kann. Bei Großprojekten müssen Bürgerinnen und Bürger bereits im Vorfeld einbezogen werden. Selbstverständlich sind auch die Quoren für Volksabstimmungen so zu bemessen, dass direkte Demokratie möglich und nicht unmöglich gemacht wird.    Wie kann aus Ihrer Sicht die Modernisierung der Demokratie aussehen? Will DIE LINKE mehr Bürgerbeteiligung durch direkte Demokratie?   Jan Korte: Direkte Demokratie ist nur ein Mittel für mehr Bürgerbeteiligung. Sie wollen wir drastisch ausbauen. Aber die LINKE will genauso die parlamentarische Demokratie stärken: Das Primat der Ökonomie über die Interessen so vieler Menschen muss zugunsten einer Demokratisierung der Demokratie zurückgedrängt werden. Uns geht es besonders um die Selbstermächtigung der Menschen, ihre Interessen in die eigene Hand zu nehmen. Und im Gegensatz zu Grünen und FDP geht es uns bei der Demokratie auch um die Verbindung von Gerechtigkeit und Freiheit. Soziale Absicherung und die Abwesenheit von sozialen Absturzängsten sind elementar für eine lebendige Demokratie. Wir wollen den aufrechten Gang, den mündigen Bürger und kämpfen gegen jegliches Untertanentum.   Spanien, Griechenland, Italien, aber auch Deutschland - in vielen Ländern Europas gehen Menschen auf die Straße und fordern mehr Demokratie. Hat sich die Euro- und Finanzkrise zu einer Krise des politischen Systems ausgeweitet?    Dagmar Enkelmann: Ja, die Krise wächst sich längst zu einer der politischen Systeme in Europa aus. Es ist sehr gefährlich, wenn die Ansicht um sich greift, derartige Krisen ließen sich mit den Mitteln der Demokratie nicht mehr bewältigen. Die Banken diktieren den Regierungen ihre Interessen ganz direkt: ungerechte Verteilung, Deregulierung und fortgesetzte Privatisierung.
Jan Korte: Ja, hat sie. Es bilden sich Regierungen der Technokraten, das Politische wird von Pseudo-Experten verdrängt, die so tun, als ob dieser oder jener Sozialabriss quasi-wissenschaftlich fundiert und alternativlos wäre. Immer mehr Menschen haben zu Recht das Vertrauen in die herrschende Politik verloren. Aber: Die Folge ist oftmals nicht Protest, sondern Resignation. Wir LINKEN müssen deshalb noch deutlicher unsere Ideen bündeln und die Resignierten motivieren. Und wir haben gute Ideen für den massiven Ausbau der Demokratie auf allen Ebenen, der die Parlamente stärkt, die direkte Partizipation ermöglicht und der einen Weg hin zur Wirtschaftsdemokratie eröffnet. Dafür müssen wir in engem Kontakt mit Gewerkschaften, Bewegungen und lokalen Initiativen gemeinsam eintreten. Ich versuche das z.B. ganz aktuell in meinem Wahlkreis beim Kampf gegen unglaubliche Mieterhöhungen.
  Die Eurokrise hat bislang fünf europäischen Regierungen das Aus beschert. Sogar Berlusconi, den die italienische Linke nicht stürzen konnte, musste gehen, als die Finanzmärkte den Daumen senkten und die Zinsen auf italienische Staatsanleihen in die Höhe schossen. Ein Putsch der Märkte?   Dagmar Enkelmann: Vielleicht kein Putsch, aber die Politik hat fraglos das Primat über die Wirtschaft verloren, die Demokratie vor den Banken kapituliert. Wir brauchen kein Europa der Banken, sondern eines der Menschen und für die Menschen. Das heißt: Eine gemeinsame europäische Politik muss sich nicht zuerst und allein um Geld und Finanzen drehen, sondern vor allem um eine gemeinsame Sozialpolitik. Statt wirtschaftlichem Gegeneinander muss Europa zu einem solidarischen Miteinander finden. Dafür steht DIE LINKE.   Der gescheiterte griechische Premier Giorgos Papandreou wollte das griechische Volk zu dem verordneten Sparkurs befragen und wurde von Merkel und Sarkozy zurückgepfiffen. "Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas", kommentierte diesen Vorgang sogar ein konservativer Zeitgenosse wie Frank Schirrmacher bitter. Die Demokratie werde verramscht. Erleben wir den Anfang vom Ende der Demokratie?

Jan Korte: Dieser Vorgang hatte wirklich etwas abartiges, aber eben auch entlarvendes. Die Demokratie ist deformiert. Die Souveränität ganzer Bevölkerungen wird bestritten. Wir sagen: Wir brauchen eine neue Ära der Solidarität! Und die Entwicklung von Frank Schirrmacher ist in der Tat bemerkenswert. Deshalb müssen wir genau gucken, wo wir mehr Mitstreiter und Bündnispartner für eine andere Politik finden: in den Gewerkschaften, Stadtteilgruppen, Mieterinitiativen und auch in anderen Parteien. Diese Regierung hat nämlich auf allen Ebenen einfach nur abgewirtschaftet.   Wie können die europäischen Gesellschaften ihre demokratische Souveränität wiederherstellen?    Dagmar Enkelmann: Auf allen Ebenen ist die Zivilgesellschaft zu stärken. Die Kommunen und ihre Vertretungen brauchen mehr Mitspracherechte auf Landes- und Bundesebene, damit nicht länger über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Auf Bundesebene müssen endlich Volksabstimmungen möglich sein. Das EU-Parlament ist in seinen Rechten gegenüber der EU-Kommission zu stärken. Zu Formen direkter Demokratie darf nicht nur im Notfall gegriffen werden – sie müssen Normalität werden.

linksfraktion.de, 5. Dezember 2011