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Wildwuchs bei der Mehrwertsteuer

Im Wortlaut,

ND-Wirtschaftskolumne

Von Rudolf Hickel

Die Koalition hatte sich in ihrem Regierungsprogramm zu einer grundlegenden Überprüfung des Systems der Mehrwertsteuer verpflichtet. Zum bevorstehenden Start einer Regierungskommission unter Vorsitz des Bundesfinanzministers ist nun die neoliberale Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) aktiv geworden. Mit ihrer Unterstützung hat sich eine Gruppe von Ökonomen, darunter vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, mit einem »Appell zur Reform der Mehrwertsteuer« zu Wort gemeldet.

Diese Steuer trug im vergangenen Jahr mit knapp 180 Milliarden Euro 34 Prozent zum gesamten Steueraufkommen bei. Davon profitieren nahezu zur Hälfte der Bund und die Länder sowie mit knapp zwei Prozent die Kommunen. Im Prinzip wird die Mehrwertsteuer auf die Produkte des privaten Verbrauchs im Inland und die importierten Güter erhoben. Von jeder Produktionsstufe wird die Mehrwertsteuer bis zum Endverbraucher weitergewälzt. Allerdings zeigen sich hier bereits Probleme: Dieser Überwälzung folgen vor allem die mit Marktmacht ausgestatteten Unternehmer nicht, wodurch insbesondere kleine und mittlere Zulieferfirmen belastet werden.

Im Zentrum der Kritik stehen jedoch die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze. Der Normalsteuersatz liegt seit 2007 bei 19 Prozent. Bei ungefähr 50 Warengruppen mit weiteren Untergliederungen wird der ermäßigte Steuersatz von 7 Prozent angewendet. Nicht besteuert werden unter anderem Wohnungsvermietung, ärztliche und soziale Leistungen sowie Bankdienstleistungen. Ursprünglich sollten ausschließlich die existenzsichernden Grundnahrungsmittel und die Kultur steuerlich privilegiert werden. Aber über die Jahre hinweg ist ein ärgerlicher Wildwuchs entstanden. Während Windeln mit 19 Prozent besteuert werden, werden auf Hundefutter nur 7 Prozent aufgeschlagen. Der ermäßigte Satz gilt auch für Zuchtpferde, Maulesel, Trüffel, Gänsestopfleber, Schnittblumen und seit Kurzem für Hotellerieleistungen.

Die Steuerpräferenz vor allem für Luxusgüter muss beseitigt werden. Dafür will die Regierungs-kommission den Weg ebnen. Die zitierte Ökonomengruppe verlangt eine Abschaffung des ermäßigten Steuersatzes sowie der Nullbesteuerung zugunsten eines einheitlichen Steuersatzes. Dadurch würde eine erneute Belastung auf die Einkommensschwachen zukommen. Nach groben Schätzungen könnte der Staat jährlich über 35 Milliarden Euro an Mehreinnahmen erzielen. Ob diese zur Senkung des Normalsteuersatzes genutzt werden, bleibt im Land der Schuldenbremse und Umverteilung offen. Würden alle Umsätze mit 19 Prozent besteuert, müsste eine vierköpfige Familie nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung monatlich mit 85 Euro Mehrkosten rechnen. Hartz-IV-Bezieher, die ihr gesamtes Einkommen für den existenzsichernden Konsum ausgeben, müssten mit einem massiven Preisschub rechnen. Dagegen würden die Einkommensstarken relativ bevorzugt: Mit wachsendem Einkommen sinkt der für den privaten Verbrauch ausgegebene Teil.

Die Mehrwertsteuer muss reformiert werden – aber anders: Der ermäßigte Steuersatz sollte auf existenzsichernde Grundnahrungsmittel und Kulturprodukte beschränkt werden. Allerdings verlangt dies politischen Mut gegen machtvolle Interessengruppen. Zur Verteidigung jeder Sonderregelung steht eine Lobby bereit. Es geht um die Säuberung von staatlich privilegierten Abstaubern. Außerdem muss der Staat seine steuerpolitische Präferenz für die Einkommensschwachen beibehalten.

Neues Deutschland, 28. Februar 2011