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Wie man auch lernen kann

Im Wortlaut von Rosemarie Hein,

Wie in jedem Jahr sind die Mitglieder der Fraktion DIE LINKE während der so genannten Parlamentarischen Sommerpause viel in ihren Wahlkreisen unterwegs. Vor Ort nehmen sie sich der Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger an, besuchen Betriebe und Vereine, engagieren sich für lokale und regionale Anliegen. Auf linksfraktion.de schreiben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier über ihren Sommer im Wahlkreis.

Rosemarie Hein mit dem Wolmirstedter Schulleiter Helmut Thiel

Produktive Unruhe herrscht im ganzen Schulhaus. „Sie werden keine Schülerin und keinen Schüler finden, der nicht arbeitet“, sagte der Schulleiter der Ganztagssekundarschule „Johannes Gutenberg“ in Wolmirstedt, Herr Thiel, als wir über den Flur in der ersten Etage gehen. Tische und Stühle stehen hier nicht nur in allen Klassenräumen und Fluren, sondern selbst auf den größeren Treppenpodesten. Dabei ist keine Enge, alles ist weit, farbenfreundlich und offen - und blitzblank. Die Schülerinnen und Schüler achten selbst auf Sauberkeit.

Wir erleben eine Phase des sogenannten SOL, des selbstorganisierten Lernens. Die Türen der Klassenräume sind offen, man lernt kompetenzorientiert und an inhaltlichen Projekten nach einem individuell für jede und jeden zusammengestellten Plan aus Pflichtaufgaben und freiwilligen Aufgaben aus den unterschiedlichen Fächern. Die Reihenfolge der Aufgabenlösung bestimmt jedes Kind selbst. Kommt man nicht klar, fragt man zuerst andere Schülerinnen und Schüler und erst wenn die nicht weiter wissen den Lehrer oder die Lehrerin des jeweiligen Faches. Das ist für diese die Rückmeldung, dass sie etwas in ihrer Arbeit korrigieren müssen - weil keine ihrer Schülerinnen und Schüler die Aufgabe lösen kann. Ein solches Arbeiten erfordert eine völlig andere Einstellung zum Lehren und zum Lernen. Es gibt auch einen Raum, in den man sich zurückziehen kann, wenn man mal Ruhe zum Lernen braucht. Dort darf nicht gesprochen werden.

Auf dem ersten Flur treffe ich einen Schüler der siebten Klasse. Er arbeitet an einer mathematischen Aufgabe. Im Wochenplan sind für alle Aufgaben Lösungszeiten vorgegeben. „Schaffst du denn das auch immer?“ frage ich ihn. „Mal so, mal so“, sagt er. Vor ihm liegt eine kleine grüne Plastikkarte mit Name und Passbild. Ich frage ihn nach der Bedeutung. Er erklärt mir, dass grüne Karten nur Schülerinnen und Schüler erhalten, die als zuverlässig eingeschätzt werden. Mit dieser Karte darf man lernen, wo man will - überall auf dem Schulgelände. Die anderen haben gelbe Karten. Staunend gingen wir weiter. Helmut Thiel erklärte mir, dass ich eben mit einem Schüler gesprochen habe, der eine Hauptschulempfehlung hatte…

Wieso geht an dieser Schule so vieles, was an anderen Schulen unmöglich scheint? Es ist jahrelange Überzeugungsarbeit, auch bei den Eltern, ein vertrauensvolles Klima, ein Bildungsverständnis, dass Heranwachsende ernst nimmt, sie nicht als Objekte, sondern als Subjekte des Lernprozesses versteht.
Die Schülerinnen der fünften Klasse, die aus den umliegenden Grundschulen kommen, haben nach vierzehn Tagen verstanden, worum es geht. Schüler, die vom Gymnasium zurückverwiesen wurden, haben es schwerer, weil sie diese Art des Arbeitens nicht gelernt haben.
„Das wichtigste Thema ist die Bildung“, hat Bundespräsident Christian Wulf im Morgenmagazin eben gesagt. Da hat er wohl recht. Aber Beschwörungsformeln reichen nicht. Man muss Bedingungen schaffen, in denen sich solche Schulen entwickeln können: materielle, politische, personelle, verwaltungsrechtliche. Sonst ist es schwer, die eingefahrenen Gleise zu verlassen. Meine Überzeugung, dass gemeinschaftliches Lernen die bessere Alternative zum gegliederten Schulsystem ist, findet in Wolmirstedt eine nachhaltige Bestätigung. Warum gibt es so viele Widerstände gehen neue pädagogische Wege, gegen gemeinschaftliches Lernen, gegen die Gemeinschaftsschule? Die Sekundarschule in Wolmirstedt ist inhaltlich schon eine.

Schülerinnen und Schüler, so bestätigt uns der Schulleiter, lernen am schnellsten voneinander, darum übernehmen die achten Klassen die Patenschaft für die fünften und das wächst dann auf. Sozialer Zusammenhalt wird großgeschrieben. Der Lohn: Schülerinnen und Schüler, die gerne lernen und erfolgreiche Bewerbungen um Ausbildungsplätze am Ende der Schulzeit. Na bitte, geht doch. Von wegen zu schlechte schulische Voraussetzungen…

Helmut Thiel sind die Ideen noch nicht ausgegangen. Im nächsten Jahr beginnt ein weiterer Schulversuch. Wir wollen unbedingt wiederkommen.

Von Rosemarie Hein

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