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Widerstand ist keine Frage des Alters

Kolumne von Stefan Liebich,

Seniorinnen und Senioren besetzen ihre Freizeitstätte in der Stillen Straße in Berlin-Pankow, um die Schließung und den Verkauf des Hauses zu verhindern

 

 

Von Stefan Liebich, im Wahlkreis Berlin-Pankow direkt gewählter Bundestagsabgeordneter

Politik ist nicht abstrakt, sondern hat immer konkret mit Menschen zu tun. Das zeigt sich momentan in Berlin-Pankow sehr anschaulich. Durch die katastrophale Finanzsituation der öffentlichen Haushalte, die sich unter anderem durch Schuldenbremse und Fiskalpakt wohl leider in den kommenden Jahren noch verschärfen wird, sehen sich viele Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker gezwungen, Angebote zu streichen oder soziale und kulturelle Einrichtungen ganz zu schließen. Inzwischen geht es dabei tatsächlich an die letzte Substanz. So sollten in meinem Wahlkreis fast alle öffentlichen kulturellen Einrichtungen geschlossen werden. Der Dezernent für Kultur von der CDU - in den Berliner Bezirken Stadtrat genannt - stellte eine unglaubliche Streichliste auf. Der breite und kreative Protest der Kunst- und Kulturschaffenden war so stark, dass die kommunalen Kürzungspolitikerinnen und Kürzungspolitiker von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU zurückschreckten und die Einsparungen wieder kassierten. Übrig blieb jedoch unter anderem der Beschluss, eine viel genutzte und wichtige soziale Einrichtung zu schließen und die Immobilie zu verkaufen: die Seniorenfreizeitstätte in der Stillen Straße.

Doch die Politik täuschte sich, diese Einrichtung geräuschlos schließen zu können. Die Betroffenen waren zunächst schockiert über die Unverfrorenheit, mit der die Zuständigen ihre Einrichtung opfern wollen, um mit dem rot-schwarzen Senat eine Einigung über den Bezirkshaushalt zu erzielen. Wut und Trauer herrschten. Daraus wurde neuer Mut: Wir lassen uns das nicht gefallen! So der Tenor. Sie suchten Verbündete bei anderen sozialen und kulturellen Projekten. Sie protestierten laut und stark im bezirklichen Parlament gegen ihre Verdrängung. Sie fanden praktische Unterstützung unter anderem bei Pankows LINKEN. Und auch ich als ihr Wahlkreisabgeordneter suchte nach Möglichkeiten zu helfen. Als das alles nichts brachte und die Schließung der Einrichtung dennoch beschlossen wurde, setzten die Seniorinnen und Senioren eine von Beginn an mitgedachte Option um: Zur Not besetzen wir unser Haus.

Ende Juni war es soweit. Kurz bevor die Türen geschlossen werden sollten und aus Angst, die zuständige SPD-Stadträtin könnte die Schlösser austauschen lassen, wurden die Seniorinnen und Senioren medienwirksam zu Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern. Seit dem steht die bezirkliche Kürzungspolitik enorm unter Druck, überregionale Medien berichten. Nachbarinnen und Nachbarn, jüngere und ältere Bürgerinnen und Bürger, Aktivistinnen und Aktivisten anderer Initiativen leisten hilfreiche und konkrete Unterstützung. Und auch Genossinnen und Genossen der LINKEN tun, was sie können. Wenn ältere Menschen mitten im Sommer durch eine Hausbesetzung den Kampf für soziale Gerechtigkeit aufnehmen, ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Die Stille Straße muss erhalten bleiben.

Die Dankbarkeit für die Solidarität ist spürbar, wenn man dieser Tage dort vorbeischaut. Hier wehren sich Menschen gegen eine gedankenlose Schließungsentscheidung. Es ist nicht der Job der Seniorinnen und Senioren, die finanziellen Probleme des Bezirks Pankow zu lösen, sondern sie zeigen: Bis hierher und nicht weiter! Mit uns nicht! Und ihre Aktion kann Wirkung über den eigenen Tellerrand erzeugen, denn ihre Solidarität gilt auch anderen, immer wieder von Sparmaßnahmen betroffenen Projekten und Einrichtungen.

Ob die Schließung verhindert und die Einrichtung langfristig gesichert werden kann, ist momentan nicht zu sagen. Die in der Bezirkspolitik Verantwortlichen agieren noch planlos und überfordert, wurden Sie doch von den Protesten und insbesondere der breiten Unterstützung überrascht. Aber unabhängig davon, wie es ausgeht: Hier zeigt sich wieder einmal, dass Widerstand gegen Sozialabbau keine Frage des Alters ist und dann eine Chance hat, wenn er vernetzt und - wohl am wichtigsten - in der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen stattfindet.