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Widerstand deutlich geschwächt, aber nicht am Ende

Im Wortlaut von Sabine Leidig,

Von Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Bild Stuttgart titelt am Tag nach der Volksabstimmung: "Jetzt wird gebaut". So dürfte es jetzt tatsächlich kommen. Die Gegnerinnen und Gegner des zerstörerischen Großprojekts Stuttgart 21 mussten am 27. November eine herbe Niederlage einstecken. Insbesondere das Ergebnis in Stuttgart ist ernüchternd: 47,1 Prozent stimmten mit Ja und damit für den Ausstieg aus der S21-Finanzierung oder gegen das Megaprojekt. 52,9 Prozent stimmten mit Nein und damit für S21. Auch eine knappe Mehrheit an Ja-Stimmen in der Landeshauptstadt wäre durchaus ein überzeugendes Argument dafür gewesen, den weiteren Kampf gegen Stuttgart 21 – den es ohne Zweifel geben wird – mit diesem Teilergebnis der Volksabstimmung zu begründen. Doch es gibt eben auch in der Landeshauptstadt selbst – wo es mit 67,8 Prozent die höchste Wahlbeteiligung gab – eine Mehrheit für das Projekt. Gewonnen haben die S21-Gegnerinnen und Gegner einigermaßen überraschend nur in vielen badischen Wahlkreisen - wie in Karlsruhe mit 53,6 Prozent Ja-Stimmen, in Heidelberg mit 58, in Mannheim 57,2 und in  Freiburg mit 66,5 Prozent. Diese Ergebnisse erklären sich vor allem aus der Furcht der Menschen im Rheintal und in der Rhein-Neckar-Region, dass die Deutsche Bahn AG aufgrund des Baus von S21 für den dringend erforderlichen Ausbau der Schienenverbindungen in ihren Regionen nicht ausreichend Geld haben und vor allem die berechtigten Forderungen nach alternativen Trassenführungen und Lärmschutz nicht erfüllen wird.

In den meisten eher ländlichen Gegenden Baden-Württembergs – in großen Teilen des Schwarzwalds, auf der Schwäbischen Alb, in Oberschwaben und im Bodenseegebiet – gab es oft äußerst schlechte Ergebnisse für die S21-Gegnerinnen und Gegner, beispielsweise im Alb-Donau-Kreis mit 23,0 Prozent Ja-Stimmen, in Biberach mit 24,5, in Freudenstadt mit 31,6, in Tuttlingen mit 31,8, im Ostalbkreis mit 31,9 und in Calw mit 32,6 Prozent. Diese Ergebnisse trugen wesentlich dazu bei, dass auch beim Gesamtergebnis die S21-Befürworter die klare Mehrheit haben: 58,8 Prozent aller Wahlberechtigten stimmten mit Nein - also für S21.

Die Ergebnisse auf dem gar nicht so flachen Land legen eine erhebliche Schwäche der S21-Gegner bei ihrer Kampagne zur Volksabstimmung offen. Es gab viel zu wenig überzeugendes Massenmaterial (Plakate, Flugblätter), das die Menschen in diesen ländlichen Regionen erreichte. Die elektronischen Medien waren ohnehin dominiert von der Pro-S21-Propaganda. Die jeweils herrschenden regionalen Monopolzeitungen unterstützten überall das S21-Projekt. Informationsveranstaltungen der S21-Gegner gab es in diesen Gegenden meist keine bzw. wenn es solche gab, dann erreichte man damit nur einen Bruchteil der Wahlberechtigten. Der alte CDU-durchwirkte Apparat von Abgeordneten, Landräten, Gemeindeverwaltungen und Bürgermeister mobilisierte landesweit, was insbesondere im ländlichen Raum zur erheblichen Unterstützung für S21 beitrug.

Der entscheidende Grund für die Niederlage der S21-Gegnerinnen und -Gegner in der Volksabstimmung ist jedoch bei der Landesregierung zu suchen. Die Grünen als führende Regierungspartei ließen es gleich nach der gewonnenen Landtagswahl vom 27. März 2011 zu, dass beim Thema S21 der Juniorpartner, die Pro-S21-SPD, den Ton angab. Mehrere Chancen, das Projekt S21 sachlich-inhaltlich durch die Landesregierung selbst auszubremsen, wurden vertan. Die vielfältigen Hinweise darauf, dass die Angaben zur Finanzierung von S21 von den Vorgängerregierungen systematisch manipuliert wurden, dienten nicht dazu, hierzu die geeignete juristische Auseinandersetzung zu suchen und darzulegen, dass alle S21-Verträge null und nichtig sind, weil wider Treu und Glauben geschlossen. Die Tatsache, dass in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ein Schrägbahnhof mit 15 Promille Gefälle und damit mit einem in Europa einmaligen Potential für schwere Zugunfälle gebaut werden soll, wurde nicht ernsthaft thematisiert. Auch wurde auf die Tatsache, dass die bisherige Baugenehmigung für die Bahn auf falschen Grundannahmen basiert, dass die doppelte Menge an Grundwasser als genehmigt abgepumpt werden soll, nicht angemessen reagiert. Schließlich deckte ein Team um den Sachverständigen Dr. Christoph Engelhardt, Sprecher der Faktencheck-Plattform Wikireal.org., eine Woche vor der Volksabstimmung auf, dass die Grundlagen des Stresstestes systematisch manipuliert wurden und dass die reale Leistungsfähigkeit des S21-Tiefbahnhofs bei der Hälfte dessen liegen wird, was ein optimierter Kopfbahnhof leisten könnte. Auch hierzu gab dazu keine erkennbare Reaktion der Landesregierung bzw. der Grünen als führender Regierungspartei.

Wer sich einmal freiwillig derart in die Defensive begibt, darf sich nicht wundern, dass die reaktionäre Meute die Spur aufnimmt. "Der Stuttgart 21-Minister" überschriebt die Stuttgarter Zeitung am 28. November ihre Seite 3, auf der sie Verkehrsminister Winfried Hermann in der Nacht nach der Volksabstimmung porträtiert. In dem Artikel fordert der CDU-Fraktionsvorsitzende im Stuttgarter Landtag, Peter Hauk, "dass der Verkehrsminister jetzt seiner Projektförderpflicht beherzt nachkommt, und zwar erkennbar". Und Bild Stuttgart bringt auf zwei Seiten ein Bild von S21-Gegnerinnen und Gegnern mit der Schlagzeile "Werden die Grünen die Geister wieder los?" Die Grünen springen über dieses Stöckchen. Ministerpräsident Kretschmann erklärt in Bild: "Dieses Ergebnis (bei der Volksabstimmung) trägt dazu bei, den Konflikt zu befrieden". Er fordert, S21 müsse jetzt "ein vernünftiges Projekt" werden. Wie sollte ein durch und durch unvernünftiges, zerstörerische Projekt je vernünftig werden können?

Der Widerstand gegen S21 ist mit dem 27. November zwar deutlich geschwächt. Doch er wird fortgesetzt werden. Er speist sich in erster Linie aus den Sachargumenten - den explodierenden Kosten, der fehlenden durchgängigen Planfeststellung, der erwähnten doppelt so großen Entnahme von Grundwasser (worüber das Verwaltungsgericht Mannheim neu Mitte Dezember verhandeln wird), den gefälschten Stresstest-Grundlagen sowie der Problematik Schrägbahnhof, wozu die Gewerkschaft GDL zwei Tage vor der Volksabstimmung eine Klage in Aussicht stellte.

Vor allem wird S21 am Ende rein technisch scheitern. Was die S21-Betreiber allerdings wenig kümmern wird. Sie werden jetzt alles daran setzen, Fakten zu schaffen: Abriss des Südflügel des Bonatzbaus, Abholzen der Bäume im Schlossgarten, Vorverlegung der Gleisanlagen aus dem Bahnhof heraus und Ausheben einer gigantischen Baugrube dort, wo derzeit noch die Gleise im Kopfbahnhof enden. Und Beginn mit dem Bau des größten Einkaufszentrums der Region durch die Tochter des Otto-Konzerns, ECE. Womit dokumentiert wird, dass es den S21-Betreibern nicht um einen Bahnhof, sondern allein um die Vermarktung von Gelände geht.

linksfraktion.de, 28. November 2011