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»Wer sich unbezahlten Überstunden verweigert, der fliegt«

Im Wortlaut von Niema Movassat,

Niema Movassat ist Abgeordneter der LINKEN im Bundestag und Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Movassat besuchte im Rahmen einer Evaluationsreise des genannten Ausschusses im April Bangladesch. Über die Situation in dem Entwicklungsland mit seinen 160 Millioen Einwohnern sprach mit ihm für ND Martin Ling.

Niema Movassat über prekäre Bedingungen im Textilsektor und Landraub in Bangladesch

Die Weltwirtschaft bewegt sich seit dem Beginn der globalen Finanzkrise im Herbst 2008 zwischen Hoffen und Bangen. Wie ist die Lage in Bangladesch?

Bangladesch ist bisher glimpflich weggekommen. Denn das Land ist nicht so stark in die internationalen Finanzmärkte integriert, das war sicherlich von Vorteil. Realwirtschaftlich haben sich die Auswirkungen laut unserer Gesprächspartner in Grenzen gehalten. Sicher dürfte das ein oder andere Unternehmen in Europa weniger Textilien aus Bangladesch geordert haben als üblich. Insgesamt konnte Bangladesch im ersten Halbjahr 2009 bei den Textilexporten aber sogar noch um 20 Prozent zulegen, erst danach fiel die Wachstumsrate auf 2,6 Prozent. Das könnte auch Arbeitsplätze gefordert haben. Ein Wirtschaftsrückgang in der Dimension wie in den USA oder in Europa hatte Bangladesch freilich nicht zu verzeichnen.

Die Arbeitsbedingungen im Textilsektor lassen nach jüngsten Medienberichten zu wünschen übrig. Am Pranger stehen Fabriken, die KiK, Lidl, H&M und Co. beliefern. Wie haben Sie das vor Ort erlebt?

Wir haben uns ein Textilwerk angeschaut und mit einem Gewerkschafter und einem Arbeitsforscher über die Thematik gesprochen. Das Textilwerk war ein Vorzeigewerk und damit nicht repräsentativ. Dort wurden selbst relativ hohe Löhne weit über dem Mindestlohn von rund 17 Euro im Monat gezahlt. 90 Prozent der Textilunternehmen aber zahlen nur den Mindestlohn oder noch weniger. Laut Angaben des Gewerkschafters müsste der Lohn bei 50 bis 55 Euro liegen, damit eine menschenwürdige Existenz gesichert werden kann, und dabei sind die Familienangehörigen noch nicht berücksichtigt.

Niedrige Löhne dürften nicht das einzige Problem sein ...

Sicher nicht. Hinzu kommen unbezahlte Überstunden. Wer sich weigert, fliegt. Die industrielle Reservearmee ist in einem Land mit 160 Millionen Einwohnern und einer Arbeitslosenquote von 40 Prozent unerschöpflich. Auch von sexuellen Belästigungen von Arbeiterinnen durch Vorgesetzte wurde berichtet.

Die multinationalen Unternehmen berufen sich in der Regel darauf, die lokale Gesetzgebung einzuhalten und machen den lokalen Gesetzgeber für Arbeits- und Sozialstandards verantwortlich. Nachvollziehbar?

Nein, denn die Realität sieht anders aus. Die Arbeitsgesetze werden häufig nicht eingehalten. Es ist eine zentrale Forderung der Gewerkschaftsbewegung, dass die Arbeitsgesetze - die überdies verbesserungswürdig sind - überhaupt mal eingehalten werden.

Wen sehen die Gewerkschaften in der Verantwortung, die Multis oder die Regierung?

Vor allem die multinationalen Unternehmen. Sie kritisieren aber auch, dass die bangladeschische Regierung zu wenig die Einhaltung der Standards kontrolliert. Es gibt nur 50 staatliche Kontrolleure für 4500 Textilfabriken. Das reicht hinten und vorne nicht. Es fehlt eindeutig an politischem Willen. Das erklärt sich zum Teil dadurch, dass 29 Abgeordnete des Parlaments Eigentümer von Textilunternehmen sind. Hinzu kommen noch jede Menge Abgeordnete, die indirekt über familiäre Bindungen beteiligt sind. Und die Regierung hat Angst, dass höhere Löhne und Standards zu einer Abwanderung der Multis in noch billigere Länder führen könnten. Die Textilindustrie ist ein Wanderzirkus. Die Multis ziehen von Standort zu Standort weiter, je nach Entwicklung der Arbeitskosten. Sie gehen immer dahin, wo das Verhältnis aus Lohn und Qualität optimal ist. Soziale Verantwortung ist oft Nebensache.

Soziale Verantwortung ist auch beim T-Shirt-Kauf hierzulande ein eher nachrangiger Aspekt. Begrüßen die Gewerkschaften dort Kampagnen wie jene für »Saubere Kleidung«, in der die Einhaltung von Standards gefordert wird?

Das wird begrüßt. Ebenso die kritische Berichterstattung in Deutschland über die Zustände dort und die Verwicklung deutscher Unternehmen darin wurde registriert und positiv aufgenommen. Der Manager des Textilbetriebes, mit dem wir geredet haben, sprach sich für mehr Druck seitens der Verbraucher im Westen aus. Das würde auch die Stellung der Arbeitgeber stärken, die Vorreiter bei Sozialstandards sind und sich trotzdem auf dem Markt behaupten können.

Neben dem Textilsektor ist Bangladesch auch durch das sogenannte Land Grabbing, den großflächigen Landverkauf an ausländische Unternehmen, in die Schlagzeilen gekommen. Wie stellt sich das Problem dar?

Bangladesch ist von der Fläche ein relativ kleines Land und von der Einwohnerzahl gewaltig. Hätte Deutschland die gleiche Bevölkerungsdichte wie Bangladesch, würden in Deutschland 400 Millionen Menschen leben. Das heißt, die Landfrage ist eine der maßgeblichen Fragen, zumal wegen der regelmäßigen Überschwemmungen viel Land nicht landwirtschaftlich nutzbar ist. Das Problem Land Grabbing stellt sich in Bangladesch mit einer besonderen Spezifik. Es sind weniger transnationale Konzerne, die Land aufkaufen, sondern es ist eher die reiche Oberschicht, die sich Land einfach unter den Nagel reißt - häufig von der indigenen Bevölkerung. Die indigene Bevölkerung besitzt und bearbeitet normalerweise Gemeinschaftsland, das nirgendwo katastermäßig festgehalten ist. Statt Eigentumsmittel gilt das Gewohnheitsrecht, nur dass sich die Oberschicht daran nicht hält. Sie nimmt sich das Land einfach und setzt das mit Schlägertrupps durch.

Rechtssicherheit bei Landtiteln gibt es so wenig wie bei den Arbeitsgesetzen?

Genau. Es gibt ein Kompetenzwirrwarr bei den Behörden und eine Polizei, die sich nicht als Freund der Bevölkerung versteht. Die Vertreibung der Indigenen geht mit der Duldung der Polizei einher. Der Landraub der Oberschicht verläuft systematisch.

Neues Deutschland, 8. Juni 2010