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»Wer nicht wagt, kann nicht gewinnen«

Im Wortlaut,

Strausberger Bürger an FairWohnen interessiert

Von Andreas Fritsche

»Wie trete ich ein?« Das ist eine der ersten Fragen am Dienstagabend in der Anne-Frank-Oberschule im brandenburgischen Strausberg. Die Bundestagsabgeordnete Heidrun Bluhm (LINKE) zieht gegenwärtig durch Ostdeutschland und wirbt Mitglieder für die neue Wohnungsgenossenschaft TLG FairWohnen. Es ist derzeit eine Genossenschaft ohne Quartiere. Sie bemüht sich, 11 500 Wohnungen zu erhalten – jene Wohnungen, die der Bund meistbietend verkaufen will. Noch befinden sich die Häuser im Bestand der TLG Immobilien, einem Überbleibsel der Treuhand, die nach der Wende das Volkseigentum der DDR verscherbelte.

In Strausberg handelt es sich um 973 ehemalige Wohnungen der Nationalen Volksarmee (NVA), gebaut in den 1950er Jahren, gelegen nahe der Anne-Frank-Schule. Eine der Straße heißt bis heute nach Peter Göring, einem Grenzsoldaten, der 1962 an der Mauer von Westberliner Polizisten erschossen wurde. In Strausberg saß früher das DDR-Verteidigungsministerium. In der Peter-Göring-Straße, der Philipp-Müller-Straße, in Kastanienallee und Parkstraße wohnten Mitarbeiter – Offiziere und Zivilbeschäftigte – mit ihren Familien. Mancher Oberst und Oberstleutnant oder seine Witwe lebt heute noch dort. Aber es sind in den vergangenen Jahren auch neue Mieter eingezogen.

Ein kleines Risiko

Die Mehrzahl der Bewohner ist inzwischen Rentner, 75 Jahre und älter. Diese Menschen brauchen ihre Ruhe. Allein die Nachricht von den Verkaufsabsichten sorgte jedoch für große Unruhe, erzählt Dieter Kartmann, Vorsitzender des Bürgerbundes Nordheim '91, der 650 Mitglieder aus dem Norden der Stadt Strausberg zählt. Der mittlerweile 77-Jährige bezog 1969 eine Drei-Raum-Wohnung in der Parkstraße. Die beiden Töchter sind längst verheiratet und ausgezogen. Nun wohnen nur noch der ehemalige NVA-Oberst und seine Frau dort. Sie möchten bleiben. Bedingung dafür wäre, dass nicht ein gieriger Investor den Zuschlag für die TLG-Wohnungen erhält und die Mieten ungeniert anhebt. Eine Erhöhung der Nettokaltmiete um 20 Prozent wäre rein rechtlich alle drei Jahre möglich, hat Bluhm gewarnt, die auch Aufsichtsratschefin von FairWohnen ist.

Diese Genossenschaft bietet nach Ansicht von Dieter Kartmann den bestmöglichen Schutz, denn die Mitglieder würden demokratisch entscheiden, was werden soll. Kartmann ist bereits eingetreten und empfiehlt Freunden und Nachbarn, das auch zu tun. Ein kleines Risiko gebe es zwar, räumt er ein. Man könne durchaus 100 Euro dabei einbüßen. »Aber wer nicht wagt, der kann nicht gewinnen.« Oder anders ausgedrückt: »Wer kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Dafür erhält der 77-Jährige Applaus. Die Leute hier kennen und duzen ihn. Er genießt Vertrauen und Ansehen, weil er einer ist, der sich kümmert, auch als Stadtverordneter der Linkspartei.

Wie kann man denn nun eintreten in die Genossenschaft? Auf jeden Fall soll es niemand sofort am Ausgang tun. Das sei hier keine Kaffeefahrt, wo man erst rausgelassen werde, wenn man eine Decke gekauft hat, versichert Bluhm. Jeder solle sich zunächst die Satzung ein- oder zweimal gründlich durchlesen, mindestens eine Nacht darüber schlafen, dann vielleicht anrufen und Fragen stellen, mit den Kindern reden und am Ende auch überlegen, ob er das Geld dafür übrig habe.

Fällig werden zunächst 105 Euro Eintrittsgebühr plus zehn Geschäftsanteile zu je 51,13 Euro, zusammen also 616,30 Euro. Das genügt erst einmal. Wenn FairWohnen die TLG-Wohnungen tatsächlich erhält, sind – abzüglich der Kaution – 51,13 Euro für jeden Quadratmeter zu entrichten. Bei einer 65 Quadratmeter großen Wohnung wären das rund 3300 Euro, rechnete Vorstand Joachim Kadler vor. Wer nicht in die Genossenschaft eintrete, dürfe einfacher Mieter bleiben. Doch wenn später Wohnungen frei werden, sollen sie nur noch an Genossenschafter gehen.

Der Wert aller TLG-Quartiere wird mit etwa 500 Millionen Euro angegeben. Fünf Prozent der Summe sollen durch Genossenschaftsanteile aufgebracht werden, der Rest durch einen Kredit. Banken sind an der Finanzierung interessiert, heißt es.

Stadt zeichnet Anteile

Falls das Projekt scheitert, FairWohnen nicht zum Zug kommt, gibt es das Geld zurück. Abgezogen von den 616,13 Euro werden dabei nur bescheidene Kosten für Saalmieten und Porto; Vorstand und Aufsichtsrat arbeiten sparsam und ehrenamtlich, wird beteuert. In Strausberg musste zum Beispiel nicht einmal eine Saalmiete gezahlt werden. Für so eine Veranstaltung habe man die Anne-Frank-Schule selbstverständlich kostenlos überlassen, erklärte Bürgermeisterin Elke Stadeler (parteilos). Sie berichtete von einem parteiübergreifend gefassten Beschluss des Stadtparlaments, dass die Kommune ihrerseits 50 Genossenschaftsanteile zeichnet.

»Mir ist manchmal ein bisschen mulmig im Magen, wenn ich an die Summen denke, die da im Spiel sind«, gestand Dagmar Enkelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion im Bundestag. »Aber ich glaube an diese Idee.« Enkelmann ist in Strausberg zur Schule gegangen, zwei Jahre besuchte sie dabei die Polytechnische Oberschule (POS) »Friedrich Engels«, heute Anne-Frank-Schule. Strausberg gehört zum Wahlkreis der Politikerin und sie ist Gründungsmitglied von FairWohnen. Brandenburgs Landtagsfraktionschefin Kerstin Kaiser, die in Strausberg lebt, hat beschlossen, ebenfalls einzutreten. Das reicht aber noch nicht.

Bis Ende Juni möchte Heidrun Bluhm wenigstens 1000 Mitglieder beisammen haben. Bislang sind es knapp 400. Nach dem Abend in Strausberg sieht es aber gut aus. Dort war der Zuspruch hoch, der Saal mit knapp 200 Menschen voll, einige Zuhörer schauten aus einem Vorraum durch die geöffnete Tür. Weil der Andrang so groß war, gab es zwei Stunden später eine zweite Informationsrunde, zu der noch einmal gut 50 Personen erschienen.

Bluhm zeigte sich beeindruckt. In Dresden, wo es immerhin 2400 TLG-Wohnungen gebe, sei das Interesse nicht so groß gewesen. Beitrittsformulare wurden förmlich aus den Händen gerissen. Dass es Exemplare der Satzung ohne Adresse gab, sorgte für Aufregung, denn wohin sollte die Eintrittserklärung nun geschickt werden? Sorgen bleiben freilich trotzdem. Lässt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Vergabe der TLG-Wohnungen an eine von 30 LINKE-Abgeordneten gegründete Genossenschaft überhaupt zu? Ein Mieter sprach aus, was viele dachten: dass dieses Projekt wohl »politisch niedergemacht« werde. Dieter Kartmann versteht die Bedenken. Er kann nur wiederholen: »Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Und kämpfen, das wollen sie in Strausberg.

neues deutschland, 7. Juni 2012