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»Wer Europa will, muss es den Reichen nehmen«

Interview der Woche von Klaus Ernst, Katja Kipping,

Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, und Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, über die Politik der Großen Koalition, den geplanten Mindestlohn, den Arbeitsmarkt, Hartz IV und prekäre Beschäftigung sowie soziale Ungleichheit in Europa

 

Deutschland 2014 – es regiert eine Große Koalition aus CDU und SPD. Die SPD schmückt sich damit, einen Mindestlohn einzuführen – nicht flächendeckend und mit Ausnahmen, aber immerhin. Korrigiert die SPD nun die Fehler ihrer Agenda-Politik?

Katja Kipping: Wenn es jetzt Teilkorrekturen eigener Fehler gibt, dann liegt das vor allem an dem Druck von links. Glaubt denn ernsthaft jemand, die SPD hätte um einen Mindestlohn gekämpft, wenn DIE LINKE das Thema nicht seit Jahren auf die Agenda gesetzt hätten. Oder die Möglichkeit nach 45 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen – das ist nur eine Reaktion darauf, dass DIE LINKE dafür kämpft, dass man wieder mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen kann.

Rot-Grün hat mit der Agenda 2010 einen flexibleren Arbeitsmarkt versprochen. Der Begriff ist zugegeben dehnbar, aber kann ein flexibler Arbeitsmarkt nicht auch etwas Gutes sein?

Klaus Ernst: Bei der Agenda 2010 geht es nicht um flexible Arbeitszeiten, die zum Beispiel Job und Familie besser vereinbaren lassen. Das Ziel der Agenda-Politik war, das so genannte Normalarbeitsverhältnis mit hohen Schutzrechten und Tariflohn zurückzudrängen und die Arbeitnehmer verfügbar zu machen. Mehr Teilzeitarbeit und Minijobs, mehr Befristungen und die Leiharbeit als Alternative zum sicheren Job waren die Instrumente, um den Preis der Arbeitskraft zu senken. Die Herausbildung eines riesigen Niedriglohnsektors wäre ohne die Perforierung des Arbeitsmarktes nicht möglich gewesen, denn diese ging einher mit dem systematischen Abbau von Schutzrechten.

Die Arbeitgeberseite sagt ja immer, wir brauchen diese Instrumente – Minijobs, Leiharbeit, Werkverträge. Sonst steige die Arbeitslosigkeit, heißt es. Ist das kein Argument?

Klaus Ernst: Das ist Quatsch, denn die Agendapolitik hat nicht mehr Arbeit geschaffen, sondern die Arbeit nur umverteilt. Das Arbeitsvolumen ist zwischen 2000 und 2010 gleich geblieben, aber die Anzahl der Beschäftigten ist stark gestiegen. Dieser Anstieg ist zum größten Teil auf die Zunahme der Teilzeitarbeit von Frauen im Westen zurückzuführen, also mehrheitlich durch prekäre und schlecht bezahlte Arbeit. Die Umstrukturierung am Arbeitsmarkt geht mit der Zementierung des Niedriglohnsektors einher. Bereits jedes fünfte Arbeitsverhältnis ist heute schon prekär.

Fördern und Fordern war ein Grundsatz der Hartz IV-Reform. Was ist heute daraus geworden und was müsste sich ändern?

Katja Kipping: Nach der öffentlichen Behandlung der Petition zu Abschaffung der Hartz-Sanktionen hat unsere Fraktion die interessierten Gäste zu einem Fachaustausch eingeladen. Dort hörten wir viele sehr eindringliche Berichte, die verdeutlichen, wie viel Verletzungen durch das Hartz-IV-System Menschen zugefügt wurde, wie sehr die erlittenen Demütigungen auch Spuren auf der Seel von Menschen hinterlassen. Vor allem das Damoklesschwert Sanktionen hat eine verheerende Wirkung.

Haben erst Druck und Stigmatisierung durch Hartz IV dazu geführt, dass in Deutschland ein Niedriglohnbereich in dieser Größenordnung entstanden ist?

Katja Kipping: Im Zuge von Hartz IV ist die Bereitschaft schlechte Löhne, ungesunde Arbeitszeiten zu akzeptieren gestiegen. Hartz IV hat auch zum Ziel, Menschen gefügig zu machen. Um es in einem traditionellen Begriff zu fassen: In der Auseinandersetzung der Klassen schwächt Hartz IV die Seite derjenigen, die nur ihre Arbeitskraft als Ware haben, und es stärkt die Seite der Besitzenden. Deswegen werden wir damit keinen Frieden schließen.

Der Mindestlohn soll kommen. Wird der den Menschen in prekärer Beschäftigung denn nicht helfen?

Klaus Ernst: Mehr als fünf Millionen Beschäftigte, also über 15 Prozent werden heute unterhalb eines Stundenlohns von 8,50 Euro entlohnt. Sie profitieren unmittelbar vom Mindestlohn – sieht man von den geplanten Ausnahmen ab. Eine gesetzliche Untergrenze in der Entlohnung entfaltet aber auch eine Wirkung auf das Lohngefüge insgesamt. Das Einziehen einer unteren Bremse im Lohndumping gibt mehr Spielraum für Abwehrkämpfe gegen Angriffe im Mittelblock oder auch darüber und hilft somit allgemein. Aber soll der Mindestlohn diese generelle Wirkung entfalten, darf man keine Ausnahmen machen, wie jetzt geplant ist. Die Arbeitgeber werden jede Lücke nutzen, um den Mindestlohn zu umgehen. Man darf ihn auch nicht zu niedrig ansetzen. Dies ist aber geschehen. DIE LINKE fordert daher mindestens 10 Euro. Zudem wird erst in 2018 die Höhe überprüft. Da hat der Mindestlohn nur noch eine Kaufkraft von unter acht Euro, was viel zu niedrig ist.

Was macht das eigentlich mit einer Gesellschaft, die sich ein Heer von Menschen leistet, die vom Wohlstand ausgeschlossen bleiben und in prekären Verhältnissen leben?

Katja Kipping: Prekarität hat unterschiedliche Gesichter. Das betrifft sowohl Menschen, die am Laptop arbeiten, als auch mit dem Wischmopp. Ich spreche auch von einer umsichgreifenden Unkultur der Angst, die disziplinierend wirkt und Fähigkeiten wie Menschlichkeit unterdrückt. Mögliche Schritte in eine angstfreie Gesellschaft wären: Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen, kürzere Arbeitszeiten für alle, ein garantierter Schutz vor Armut, zum Beispiel in Form von Mindestrente und sanktionsfreier Mindestsicherung.

Soziale Gerechtigkeit war das Versprechen der SPD im Wahlkampf. Wohin geht die Reise in Deutschland mit der SPD in einer Großen Koalition?

Klaus Ernst: Gute Arbeit ist die Grundvoraussetzung für Armutsvermeidung. Mit einem viel zu niedrigen Mindestlohn ist es also nicht getan. Wir brauchen eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes, eine Wiederhinwendung zu gut geregelten Arbeitsverhältnissen, die gut bezahlt sind. Diese Strukturreform verweigert aber die GroKo, weswegen von einer Wende nicht die Rede sein kann. Minijobs und Befristungen werden nicht angefasst. Die Leiharbeit wird nur scheinreguliert. Jedes zweite Leiharbeitsverhältnis endet nach drei Monaten. Was nützt da die Begrenzung der Leiharbeit auf 18 Monate? Was nützt da die Durchsetzung von gleicher Bezahlung nach neun Monaten?

Der Ausuferung der Werkverträge hat man ebenfalls fast nichts entgegengesetzt. Wenn die prekäre Beschäftigung nicht eingedämmt wird, wird das Lohnniveau nicht signifikant steigen. Damit stocken weiterhin die Nachfrage und der Binnenmarkt. Es bleibt bei der Fokussierung auf den Exportsektor. Dies aber erhöht den Druck auf die Löhne und verschärft die sozialen Ungleichheiten auch innerhalb Europas.

Wenn wir einen Blick auf Europa werfen – insbesondere in Südeuropa sind die Arbeitslosenzahlen erschreckend, der Sozialabbau ist nach wie vor Programm, rechte Bewegungen gewinnen an Boden. Was steht in Europa zurzeit auf dem Spiel?

Katja Kipping: Das Kürzungsdiktat führt einerseits zu humanitären Katastrophen. So steht zum Beispiel in Griechenland das Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Laut Ärzte ohne Grenzen hat ein Drittel der griechischen Bevölkerung keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Zudem ist es volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Es verstärkt nämlich die Negativspirale.

In Griechenland und Spanien ist mehr als jeder und jede zweite Jugendliche erwerbslos, in Italien jeder dritte. Aber gerade einmal sechs Milliarden Euro werden für ein Programm zur Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit in ganz Europa mobilisiert. Für die Rettung der Banken die Europa in die Krise trieben, waren es 5.100 Milliarden Euro!

Auch deshalb sagen wir: Wer Europa will, muss es den Reichen nehmen.

linksfraktion.de, 22. April 2014