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»Wenn sich alle Beschäftigten wehren, sind sie unbesiegbar«

Im Wortlaut,

Die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch wurde vor sechs Jahren vom Klinikbetreiber Vivantes fristlos entlassen, weil sie ihren Arbeitgeber wegen Betrugs angezeigt hatte. Der permanente Personalmangel im Altenheim führe zu schweren Mängel bei der Pflege, die nicht vereinbar seien mit dem, was die Krankenkassen, die pflegebedürftigen Menschen und deren Angehören erwarten dürfen, hatte sie in der Strafanzeige argumentiert. Frau Heinisch und ihr Rechtsanwalt Benedikt Hopmann klagten gegen die Kündigung. Alle deutschen Gerichte wiesen die Klage ab. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied anders.

Was genau hat der Gerichtshof entschieden?

Benedikt Hopmann: Er hat entschieden, dass die deutsche Bundesregierung das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung verletzte, weil sie das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg verteidigte. Er hat entschieden, dass Frau Heinisch nicht wegen ihrer Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber hätte entlassen werden dürfen. 

Wie haben die Richter das Verhältnis zwischen den Unternehmensinteressen und denen der Öffentlichkeit gewichtet?

Der Rechtsform nach ist Vivantes ein privates Unternehmen, auch wenn es zu 100 Prozent dem Land Berlin gehört. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte  hat erkannt, dass die offengelegten Informationen der Frau Heinisch von öffentlichem Interesse waren – in einer Gesellschaft mit stärker wachsendem Anteil älterer Bürgerinnen und Bürger, die auf Pflegeeinrichtungen angewiesen sind und wegen ihrer  Verletzbarkeit oftmals nicht in der Lage sind, aus eigener Initiative auf Missstände in der Pflege aufmerksam zu machen. Hinter diesem öffentlichen Interesse muss das Unternehmensinteresse zurückstehen.

Frau Heinisch erhält von der Bundesregierung 15000 Euro Schadensersatz. Bekommt sie auch ihren Arbeitsplatz zurück?

Frau Heinisch erhält ab dem 1. Dezember 2011 auf Dauer eine Rente wegen geminderter Erwerbsfähigkeit. Trotzdem werden wir ein Wiederaufnahmeverfahren beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandburg betreiben. Wir wollen, dass die Kündigung aus dem Jahr 2005 für unwirksam erklärt wird. Dann muss Vivantes Frau Heinisch so stellen, als wäre ihr nie gekündigt worden.

Was bedeutet dieses Urteil für andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?

Auch wenn es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt, wird sie Wirkung auf alle Staaten entfalten, die sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in unterworfen haben, also betrifft sie rund 800 Millionen Menschen. Diese Entscheidung wir d in den nationalen arbeitsgerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden müssen und den Schutz von Whistleblowern*, von Hinweisgebern und Informanten im öffentlichen Interesse, verbessern. Unsere Hoffnung ist, dass diese Entscheidung nicht nur von ihnen, sondern von allen abhängig Beschäftigten als eine Ermunterung verstanden wird, sich zu wehren. Frau Heinisch hat gezeigt, dass eine einzelne Altenpflegerin Großes bewegen kann. Wenn sich alle abhängig Beschäftigten wehren, dann sind sie unbesiegbar.

Welche Konsequenzen sollte die Politik aus diesem Urteil ziehen?

Zunächst einmal müssen die Unternehmerverbände und die CDU aufhören, Whistleblower als Denunzianten zu diffamieren. Whistleblower tragen aufgrund ihrer besonderen Kenntnisse Missstände nach außen und machen sich damit verdient. Sie müssen besser geschützt werden. Allerdings mache ich mir keinerlei Hoffnung, dass die aktuelle Regierung diesen notwendigen Schutz verbessern wird. Dazu ist sie zu sehr den Interessen der Unternehmerverbände verpflichtet. Die CDU ist dafür verantwortlich, dass schon in der vergangenen Wahlperiode eine entsprechende Gesetzesinitiative scheiterte.

* Was ist ein Whistleblower?
Whistleblower sind Hinweisgeber und Informanten, die Missstände über illegales Handeln (Korruption, Insiderhandel, Menschenrechtsverletzungen, etc.)  oder allgemeine Gefahren (verseuchte Lebensmittel, gefährliche Medikamente, etc.), von denen sie an ihrem Arbeitsplatze erfahren haben, an die Öffentlichkeit bringen. Whistleblower decken auf, informieren und warnen. Ohne Whistleblower wären viele Skandale der nicht an die Öffentlichkeit gelangt. So machte die Tierärztin Magrit Herbst die Vertuschung der ersten Fälle von Rinderwahn (BSE) publik. Die Beamten Rudolf Schmenger und Frank Wehrheim deckten die Steuerhinterziehung von Deutscher Bank und Commerzbank in Höhe von 500 Millionen auf. Der Atomphysiker Rainer Moormann informierte die Öffentlichkeit darüber, dass der Versuchsreaktor Jülich jahrelang unzureichend gegen überhöhte Betriebstemperaturen gesichert war. Auch Brigitte Heinisch ist eine solche Hinweisgeberin. Im Jahr 2007 erhielt sie von Vereinigung Deutscher Wissenschaftler den Whistleblower-Preis.

linksfraktion.de, 2. August 2011